Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
Wohnung, inmitten von Bergen ungewaschener Wäsche, dreckigem Geschirr, Zeitschriften, Zigarettenkippen. Irgendwann musste sie wieder radikal aufräumen hier. Der ganze Scheiß war einfach zuviel für sie.
Sie fühlte sich grauenhaft einsam.
Ihr letzter Typ hatte sie vor einem halben Jahr aus seiner Wohnung geschmissen. Natürlich war es die große Liebe gewesen. Wie immer. Aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Besonders wenn sie etwas getrunken hatte. Zwei Gläschen Wein oder ein paar Bier reichten schon, um die Schleusen ihrer Selbstbeherrschung niederzureißen und die Schlampe zum Vorschein kommen zu lassen. Dann tobte sie wegen jeder Kleinigkeit, schwankte zwischen exzessiver Zurschaustellung einer Geilheit, die sie nie einzulösen gedachte, und Vorwürfen, er würde sie ja doch nur ficken wollen. Das hielt natürlich kein Mann lange aus. Aber es war ihr einfach unmöglich, jemanden so nahe an sich herankommen zu lassen, dass sie Berührungen hätte genießen können. Sie wollte es ja, mehr als alles andere, aber sobald jemand ihre unsichtbare Grenze überschritt, geriet sie in Panik. Es war, als breche jemand in ein magnetisches Feld ein, welches ihre innere Stabilität sicherte. Eine unsichtbare Hand schien dann ihre Kehle zusammenzudrücken, eine weitere Hand klammerte sich an ihrem Herzen fest und noch eine schob sich zwischen ihre Beine und drückte ihre Vagina zusammen. Manchmal war schon die Anwesenheit einer anderen Person im selben Raum unmöglich zu ertragen. Dann hatte sie plötzlich das Gefühl, diese Person würde wie ein schwarzes Loch den Raum in sich hinein saugen, und keinen Platz mehr für sie übrig lassen. Schließlich würde sie vom Raum des Anderen verschlungen werden wie schmutziges Wasser vom Abfluß eines Spülbeckens.
Nichts brauchte sie mehr als einen gewissen Abstand zu anderen Personen. Sie war aber vollkommen unfähig, diesen normalen Abstand zu anderen zu halten, eine Sache, die allen anderen Menschen so selbstverständlich zu gelingen schien. "Nein"-Sagen, eine distanzierte Miene durchhalten, Abneigung signalisieren. An gewissen Tagen war ihr das unmöglich. Und wenn sich ihr jemand näherte, durch ihre geheuchelte Freundlichkeit, die nur ihrer Angst entsprang, ermutigt, dann gelang es ihr nur noch durch einen plötzlichen Wechsel zu krasser Unfreundlichkeit, einen erträglichen Abstand wieder herzustellen.
Nur wenn schon jemand sie um etwas bat, fühlte sie sich schon schuldig, sie hätte ja wissen müssen, dass der Andere dieses oder jenes brauchen würde. Warum war sie nur so unsensibel? Allein, dass man sie bitten musste, war ein Zeichen ihres Versäumnisses, sie war eben ein egoistisches Biest, das niemand leiden konnte.
Ihre Seele bestand aus einem riesigen schwarzen Schwamm von Schuldgefühlen, der alles gierig in sich aufnahm, um die eigene Schuld zu vergrößern.
Wieder drehte sie sich unruhig auf ihrem Sofa herum.
Ihr wurde kotzübel , die Tortenstücke drehten sich in ihrem Magen umeinander. Wie konnte sie sich das nur immer wieder antun, den ganzen Tag aß sie nur Karotten und Knäcke und trank aufgesprudeltes Kranwasser und abends diese Fressorgien. Dabei löschte sie immer in der ganzen Wohnung das Licht und hockte sich nackt vor den offenen Kühlschrank. Im blauen Licht der Innenbeleuchtung fühlte sie sich wohl. Ihre Haut sah in diesem Licht weiß und rein und unberührt aus, wie sie es aus Kindertagen in Erinnerung hatte. Wie von einem mütterlichen Uterus wurde sie von dem Licht in einen geheimen Innenraum ein- und von der Umwelt ausgeschlossen. Dann schlang sie Würste, Käse, Aufschnitt; Joghurt, Obst, alles was sie tagsüber nach einem genau ausgearbeiteten Plan in verschiedenen Geschäften gekauft hatte, in sich hinein. Am Ende dann immer Torte, die an ihrem Kinn und ihren Fingern kleben blieb, sich in ihrem Gesicht verschmierte und auf ihrem nackten Leib wollüstige Spuren von Buttercreme und Schokostreussel hinterließ.
Wenn sie merkte, dass das geliebte Gefühl vollkommener Fülle und Stille sich langsam in ihr ausbreitete, ging es an die Säfte: Orangen-, Maracuja-, Apfelsaft. Zum Abschluß einen Liter Cola, die ihr endlich zu einem befreienden Rülpsen verhalf.
Danach blieb sie einige Zeit nackt auf den wunderbar kühlen Fliesen des Fußbodens liegen, bis der Schweiß ihrer geheimen Orgie getrocknet, und das angenehme Gefühl der Fülle langsam von beginnenden Schuldgefühlen in ein Gefühl des Voll- und Fettseins,
Weitere Kostenlose Bücher