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Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Titel: Die Nacht des Ta-Urt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bödeker
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konnte sich aber nicht ausdrücklich an einen bestimmten Chronisten erinnern.
    "Um wen handelt es sich denn?"
    "Nun ," er schien warm zu werden, da er echtes Interesse spürte, "die Zuordnung der Dokumente ist nicht immer eindeutig. Ein bißchen ist es wie mit Shakespeare ," er lachte leise, "man weiß ja nicht genau, ob dieser Mann überhaupt existiert hat oder ob es sich bei seinen Dramen nicht um die Werke verschiedener Autoren handelt. Ähnlich ist es hier, auf den meisten Blättern finden sich nur Initialen am Rande, wenn es denn überhaupt Initialen sind. In den Geburtsbüchern der Stadt findet sich kein Eintrag, der eindeutig diesen Initialen zuzuordnen wäre, vielleicht bedeuten die Buchstaben also etwas anderes. Aber sehen Sie hier."
    Er nahm ein vergilbtes Blatt aus einem Stapel vor sich und deutete auf zwei kleine Punkte am rechten unteren Rand des Blattes. Elaine hatte das Blatt schon in Händen gehalten, aber die schwarzen Punkte waren ihr nicht aufgefallen.
    "Was ist das?"
    "Nun, genau ist das nicht mehr zu erkennen. Das Dokument ist ja schon sehr alt und die Tinte hat sich mit den groben Fasern des Papiers vermischt. Wie gesagt, es könnten Initialen sein, aber ebensogut könnten es auch altgermanische Runen sein. Neben ihrer Funktion als Alphabet diente die Runenschrift als ein System von Symbolen zur Magie und Wahrsagerei, auch Divination genannt. Mit der Durchsetzung des Christentums verschwanden die Runen und die uns bekannte lateinische Schrift setzte sich durch. Im Unterschied zur lateinischen Schrift hat aber jede Rune nicht nur einen lautmalerischen Wert, sondern auch eine tiefere Bedeutung. Nehmen wir also für unsere Punkte hier an, es handelt sich um das altgermanische ' Th ', das bedeutet dann eben nicht nur das Zeichen für den Laut ' Th ', sondern auch ' Thuriaz ' oder 'Riese'. Oder es handelt sich um das einfache 'T', dann bedeutet es 'Gott'. Wenn die Runen- Hyphotese richtig ist, dann würde es sich hier also um einen Hinweis des Autors handeln, den dieser uns durch Runen geben will, und nicht um Initialen."
    "Sehr interessant ," sagte Elaine, "aber was für einen Hinweis könnte denn der Autor hier gemacht haben."
    "Nun, das weiß ich auch nicht, der Inhalt des Dokumentes gibt wenig Aufschluß darüber. Kennen Sie dieses Stück schon?"
    Elaine nickte. Es handelte sich um eine Seite aus dem Bericht über die Folterung an dieser jungen Frau, den sie vor einigen Tagen in der Hand gehabt hatte.
    Er unterbrach ihre Gedanken,
    "Aufschlussreich könnte zum Beispiel sein, dass sich dieses Zeichen zum größten Teil auf solchen Dokumenten findet, die sich mit der Verfolgung von Hexen beschäftigen, weniger oft auf solchen, die zum   Beispiel Naturkatastrophen, Missgeburten oder allgemeine Todesfälle schildern, alles Ereignisse, die oft mit dem sogenannten Schadenszauber durch Hexen in Verbindung gebracht wurden. Es könnte sich bei dem Hinweis um eine Art geheime Botschaft handeln, die der Autor an die Nachwelt geben wollte und die er verschlüsselte, weil er vielleicht fürchtete, selber in die Mühlen der Justiz zu geraten. Die Frage ist aber, wovor wollte derjenige, der diese Zeichen an den Dokumenten anbrachte, die Mit- oder Nachwelt warnen, oder, handelt es sich überhaupt um eine Warnung? Nehmen wir an, dieses Zeichen bedeutet 'Gott', dann kann es sich ja ebensogut um eine etwas eigenwillige Bestätigung des Willens Gottes handeln, eine damals durchaus übliche Angewohnheit. Und wenn es 'Riese' bedeutet, was für einen Riesen meinte der Autor? Sie sehen ," seufzte er und setzte sich seine Brille wieder auf die Nase, "es gibt leider mehr Fragen als Antworten."
    Anscheinend wollte er sich wieder seinen Studien zuwenden.
    "Ich will Sie nicht weiter stören." sagte Elaine. "Danke für die interessante Nachhilfestunde."
    "Oh, sie haben mich nicht gestört. Im Gegenteil, wie sagte der Philosoph Nietzsche so schön: 'Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich nicht höre, wie ich es sage'. Übrigens, mein Name ist Rosner, Jörn Rosner, ich bin Professor für Neuzeitliche Geschichte an der hiesigen Universität. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
    "Nennen Sie mich doch einfach Elaine. Ich bin nicht vom Fach, ich studiere eigentlich Ethnologie."
    "Vielleicht sehen wir uns noch einmal ," sagte der Professor, "stören Sie mich jederzeit wieder, es war mir eine sehr angenehme Abwechslung."
    Elaine wandte sich um und ging wieder an ihren Platz.

 
    ***

 
    Der Professor sah Elaine

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