Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
sollten uns gleich duzen, so alt sind wir ja doch noch nicht."
Er lachte zustimmend.
"Ich heiße Eric, hallo Elaine, freut mich." Er musterte sie eingehend.
"Hallo Eric, Elaine und Eric, wenn das kein Zeichen ist ," lachte sie, "nett, dich kennen zu lernen. Was hat dich in unsere Stadt verschlagen. Es ist nicht gerade eine Metropole hier."
"Nein, das ist es wirklich nicht, aber immerhin stehen Wahlen vor der Tür und da hat eure kleine Gemeinde Modellcharakter."
Elaine interessierte sich nicht für Politik. Sie hatte mitbekommen, dass die Opposition es für dieses Mal wohl schaffen würde, die langjährige Regierung der Republik zu stürzen, aber wieso es hier besonders interessant sein würde, die Ereignisse zu verfolgen, verstand sie nicht.
"Nun", erklärte Eric, "die Wahlen hier werden die letzten Gemeindewahlen vor den großen Wahlen sein und mit Günter Drabig ist im letzten Moment ein Kandidat aufgestellt worden, der für die Republik zum Modellfall werden könnte. Drabig ist ein Unternehmer der neuen Generation, schnell reich geworden durch Aktienspekulation, Besitzer der größten Baufirma der Umgebung und radikaler Vertreter der Neuen Linie."
Elaine hatte darüber gelesen. Die Vertreter der Neuen Linie standen für die komplette Umstrukturierung der Wirtschaft. Sie waren nicht verwurzelt in alten Verbindungen, wie die Vertreter der traditionellen Parteien, die mit gewerkschaftlichen oder kirchlichen Organisationen eng verflochten waren, und mussten deshalb auf diese kaum Rücksichten nehmen. Ihr Ziel war es, die gesamte Wirtschaft auf die neuen Medien umzustellen, die Welt ins neue Jahrtausend zu führen und alte Strukturen konsequent abzubauen. Den gesamten Banken- und Verwaltungsbereich sowie den Handel wollten sie den Bedürfnissen des Internets anpassen. Es gab die New Line erst seit knapp einem Jahr, und wenn sie hier gewinnen würden, hätte dies sicher eine Signalwirkung für das ganze Land.
"Ja ," sagte Eric ",da habe ich mich halt in die erste Reihe gestellt, als Freiwillige gesucht wurden, und jetzt werde ich für meinen Sender berichten, ob sich von hier aus die Welt auf den Kopf stellen läßt oder nicht. Aber jetzt erzähl von dir."
Elaine erzählte was sie so trieb, wobei sie natürlich ihre neuesten Interessen, nur für den Moment wie sie sich vornahm, verschwieg. Eric schien vertrauenswürdig und aufgeschlossen, er hätte sie sicher nicht ausgelacht, wenn sie ihm von Eckhardt, ihren Ahnungen und schlechten Träumen erzählt hätte. Aber sie wollte ihn doch erst besser kennen lernen, bevor sie ihm so weit Vertrauen schenkte.
So plauderten sie und tranken starken Kaffee bis ihnen bald das Herz aus der Brust sprang, dann begleitete er sie noch ein Stück nach Hause. Es störte sie nicht, dass er seinen linken Fuß ein wenig hinterherzog , tatsächlich fiel es nur einem aufmerksamen Beobachter auf. Sie hätte gern gefragt, ob er sich verletzt hatte, aber sie wollte nicht unhöflich sein.
Sie verabredeten sich für das nächste Wochenende.
***
Trotz Eckhardts seltsamen Verhaltens führte Elaine ihre Studien im Archiv natürlich weiter. Sie verspürte zwar eine gewisse Bindung an ihn, war ihm aber durch nichts verpflichtet. Außerdem konnte sie den Gedanken nicht mehr loswerden, dass diese Dokumente aus längst vergangener Zeit mehr waren als bloße Schriftstücke. Vielmehr waren es lebendige Zeugnisse von Geschehnissen, die sie persönlich etwas anzugehen schienen.
Das Gebäude in dem das Stadtarchiv untergebracht war, war ein heterogenes Gemisch aus den verschiedensten Baustilen. Teile waren erst in den siebziger Jahren des 20. Jh., andere irgendwann Mitte des 18. Jh. erbaut worden, und einige Teile, besonders die Seitenflügel und die Keller, sollten angeblich noch aus dem 14. Jh. stammen, konnten aber nicht mehr mit der notwendigen Genauigkeit datiert werden. Gerüchte besagten, dass sich an die Keller Katakomben aus den zwei Weltkrieg nahtlos an unterirdische Gänge aus grauer Vorzeit anschlossen. Elaine meinte sich zu erinnern, dass vor circa zwanzig Jahren zwei abenteuerlustige Jungen unter mysteriösen Bedingungen spurlos in dem Gebäude verschwunden waren. Aber das war wohl nur eine der Geschichten, von denen es in jeder Stadt Dutzende gab. Wahrscheinlich waren die Familien der Jungs einfach in eine andere Stadt gezogen.
Ein Erbe der Sechziger Jahre war der Fußboden im Eingangsfoyer über den sie jetzt in das Gebäude ging, ein Mosaik aus dicken Glasbausteinen,
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