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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Armen unter die Schultern, um ihn auf den Bahnsteig hochzuziehen, aber die fünfundneunzig Kilo dieses leblosen Körpers ließen sich nicht von der Stelle bewegen. Er brauchte Hilfe. Schweißgebadet richtete er sich auf, um Adamsberg anzurufen, als er den unverwechselbaren Pfiff eines Zuges hörte, der in hohem Tempo aus der Ferne herannahte. Entsetzt sah er zu seiner Linken die tosende Masse der Lokomotive geradlinig auf sich zukommen. Veyrenc warf sich auf Danglards Körper, zog ihn unter Aufbietung all seiner Kraft zwischen die Schienen, drückte ihm die Arme an die Schenkel. Der Zug stieß ein Hornsignal aus, es klang wie ein verzweifelter Schrei, der Lieutenant hievte sich mit einem Ruck auf den Bahnsteig hinauf und rollte seitlich weg. Brüllend rasten die Wagen vorbei, dann entfernte sich das Getöse, ließ ihn unfähig zu jeder Bewegung zurück, sei es, dass der ungeheure Kraftaufwand seine Muskeln gesprengt hatte, sei es, dass die Vorstellung ihm unerträglich war, Danglard ansehen zu müssen. Den Kopf in den Arm gerollt, spürte er, dass Tränen ihm über die Wangen geflossen waren. Ein Satz, ein einziger, geisterte durch sein leeres Gehirn.
Der Abstand zwischen der Oberseite des Körpers und der Unterseite des Zuges beträgt nur zwanzig Zentimeter.
     
    Fünfzehn Minuten später etwa richtete sich der Lieutenant schließlich auf den Ellbogen auf und zog sich an die Bahnsteigkante heran. Den Kopf in die Hände gestützt, machte er die Augen mit einem Ruck auf. Danglard, wie er so ordentlich dalag zwischen den glänzenden Schienen, sah aus wie ein zwischen die Holme einer Luxusbahre gebetteter Leichnam, aber er war unversehrt. Veyrenc ließ seine Stirn auf den Arm zurücksinken, zog sein Telefon heraus und rief Adamsberg an. Sofort kommen, Bahnhof Cérenay. Dann griff er nach seinem Revolver, entsicherte ihn und installierte ihn fest in seiner rechten Hand, den Finger am Abzug. Und schloss die Augen wieder.
Der Abstand zwischen der Oberseite des Körpers und der Unterseite des Zuges beträgt nur zwanzig Zentimeter.
Jetzt erinnerte er sich an die Geschichte, die im vergangenen Jahr auf der Strecke des Schnellzugs Paris – Granville passiert war. Der Mann war so stockbetrunken und reglos, als der Zug über ihn hinwegfuhr, dass das totale Aussetzen aller Reflexe ihm das Leben gerettet hatte. Veyrenc verspürte ein Kribbeln in den Beinen und begann sie langsam zu bewegen. Sie schienen ihm wie aus Watte und wogen gleichzeitig schwer wie Granitblöcke.
Zwanzig Zentimeter.
Was für ein Glück, dass der gänzliche Mangel an Muskulatur es Danglard ermöglicht hatte, flach wie ein Lumpen zwischen den Schienen zu versacken.
     
    Als er hinter sich ein Laufen hörte, saß er im Schneidersitz auf dem Bahnsteig, den Blick fest auf Danglard gerichtet, als wenn diese pausenlose Aufmerksamkeit dem Commandant die Durchfahrt eines zweiten Zuges oder das Abgleiten in den Tod hätte ersparen können. Ab und zu hatte er in irgendwelchen blöden Satzfetzen zu ihm gesprochen,
halt durch, beweg dich nicht, atme,
aber nicht mal ein Augenzwinkern als Antwort erhalten. Doch jetzt sah er, wie Danglards schlaffe Lippen bei jedem Atemzug bebten, und überdieses schwache Zucken wachte er. Sein Verstand setzte allmählich wieder ein. Der Kerl, der Danglard zu diesem Treffen bestellt hatte, hatte sich einen unfehlbaren Plan ausgedacht, indem er ihn unter den Schnellzug Caen – Paris warf zu einer Stunde, wo keine Gefahr bestand, dass ein Zeuge dazwischentreten würde. Man hätte ihn erst mehrere Stunden später entdeckt, wenn das Betäubungsmittel, was auch immer es war, bereits aus seinem Körper gewichen wäre. Man wäre nicht mal darauf gekommen, ein Narkotikum überhaupt zu suchen. Was hätte die Ermittlung ergeben? Dass Danglards Melancholie sich in letzter Zeit sehr verstärkt hatte, dass er fürchtete, in Ordebec sein Leben zu lassen. Dass er sich, vollkommen betrunken, auf diese Gleise gelegt hätte, um zu sterben. Seltsame Wahl, gewiss, aber da sich das Delirium eines betrunkenen und selbstmörderisch veranlagten Menschen nicht mit der Elle messen ließ, hätte man in diesem Sinne entschieden.
    Er wandte den Blick nach der Hand, die sich auf seine Schulter legte, Adamsbergs Hand.
    »Steig schnell da runter«, sagte Veyrenc zu ihm. »Ich kann mich nicht bewegen.«
    Émeri und Blériot hatten Danglards Körper schon bei den Schultern gefasst, und Adamsberg sprang auf das Gleis, um seine Beine anzuheben. Blériot war danach nicht in

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