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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Uhr hier sein.«
    Veyrenc fühlte sich kräftig genug, um sich wieder ans Steuer zu setzen, und Adamsberg folgte ihm in dichtem Abstand bis zu Léos Herberge, wo der Lieutenant rasch eine Dosensuppe hinunterschlang und sich auf der Stelle schlafen legte. Als Adamsberg zu seinem Zimmer ging, fiel ihm ein, dass er am Tag zuvor vergessen hatte, der Taube Körner hinzustellen. Und sein Fenster hatte offengestanden.
    Aber Hellebaud hatte sich in einem seiner Schuhe eingenistet, so wie andere Artgenossen sich auf einem Schornsteinkopf niederlassen würden, und wartete geduldig auf ihn.
    »Hellebaud«, sagte Adamsberg, indem er den Schuh samt Taube hochnahm und aufs Fensterbrett stellte, »wir müssen ein ernstes Wort miteinander reden. Du bist dabei, den Naturzustand zu verlassen und auf direktem Wege in die Zivilisation abzurutschen. Deine Beine sind geheilt, du kannst fliegen. Schau nach draußen. Da hast du Sonne, Bäume, Weibchen, Würmer und Insekten in Hülle und Fülle.«
    Hellebaud ließ ein Gurren hören, das Adamsberg ein gutes Omen zu sein schien, und mit umso größerem Nachdruck schob er Schuh und Taube auf die Fensterbrüstung hinaus.
    »Flieg, wann du willst«, sagte er. »Du brauchst auch kein Wort zum Abschied zu hinterlassen, ich versteh das dann schon.«

36
    Adamsberg hatte sich erinnert, dass man Mutter Vendermot Blumen mitbringen sollte, und so klopfte er um zehn Uhr morgens sanft an die Haustür. Es war ein Mittwoch, die Chancen standen gut, dass Lina da sein würde, es war ihr freier Vormittag im Austausch gegen ihren Bereitschaftsdienst am Samstag. Sie beide wollte er sprechen, Lina und Hippolyte, getrennt voneinander und für eine etwas gezieltere Befragung. Er fand sie alle beim Frühstück um den großen Tisch, keiner war schon angezogen. Er begrüßte sie einen nach dem anderen, ihre verschlafenen Mienen prüfend. Hippos verknautschtes Gesicht erschien ihm überzeugend, aber bei der Hitze, die jetzt schon herrschte, konnte man sich leicht das ungefähre Aussehen eines zerknitterten Schläfers geben. Bis auf das nächtliche Anschwellen der Lider, das man nicht nachahmen konnte, hatte Hippo von Natur aus schwere Augenlider, weshalb einem sein Blick häufig weder sehr wach noch sympathisch erschien.
    Die Mutter – die Einzige, die schon fertig angezogen war – freute sich ehrlich über die Blumen und bot dem Kommissar sofort einen Kaffee an.
    »Es heißt, in Cérenay hat es eine Tragödie gegeben«, sagte sie, und es war das erste Mal, dass er sie wirklich wieder reden hörte, mit ihrer ebenso demütigen wie wohlartikulierten Stimme. »Diese grausige Geschichte geht hoffentlich nicht weiter? Es ist doch Mortembot nichts passiert?«
    »Woher wissen Sie es denn?«, fragte Adamsberg.
    »Ist es Mortembot?«, beharrte sie.
    »Nein, der ist es nicht.«
    »Heilige Muttergottes«, stöhnte die Alte. »Wenn das in diesem Tempo vorangeht, dann muss ich mit den Kindern, dann müssen wir weg von hier.«
    »Aber nein, Maman«, sagte Martin mechanisch.
    »Ich weiß schon, was ich sage, mein Junge. Ihr wollt ja nichts sehen, alle, wie ihr da sitzt. Aber früher oder später wird einer kommen und wird einer uns umbringen.«
    »Aber nein, Maman«, wiederholte Martin. »Die haben viel zu große Angst.«
    »Sie begreifen nichts«, sagte die Mutter, nun an Adamsberg gewandt. »Sie begreifen nicht, dass sie uns alle für schuldig halten. Mein armes Mädchen, wenn du wenigstens deine Zunge im Zaum gehalten hättest.«
    »Dazu hatte ich kein Recht«, sagte Lina ein wenig streng und ungerührt von der Sorge ihrer Mutter. »Das weißt du sehr wohl. Man muss den Ergriffenen ihre Chance geben.«
    »Ja, gewiss«, sagte die Mutter und setzte sich an den Tisch. »Aber wo sollen wir auch hingehen? Dabei muss ich sie doch beschützen«, erklärte sie, indem sie sich aufs Neue zu Adamsberg umdrehte.
    »Niemand wird uns anzurühren wagen, Maman«, sagte Hippolyte und hob seine beiden missgestalteten Hände zur Decke, und alle brachen in Gelächter aus.
    »Sie begreifen einfach nichts«, wiederholte die Mutter leise und resigniert. »Spiel nicht mit deinen Fingern, Hippolyte. Es ist nicht der Moment, den Clown zu machen, wenn es in Cérenay einen Toten gegeben hat.«
    »Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Lina, von der Adamsberg den Blick wenden musste, denn ihre Brust war allzu sichtbar unter dem Stoff ihres weißen Pyjamas.
    »Maman hat es dir doch erzählt«, sagte Antonin. »Jemand hat sich unter den Schnellzug aus

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