Die Nacht des Zorns - Roman
löste die Handbremse und ließ den Wagen langsam den abschüssigen Weg hinabrollen, um niemanden zu wecken. Erst als er die Landstraße erreicht hatte, startete er und fuhr langsam zweiundzwanzig Kilometer weit, die Sonnenblende heruntergeklappt. Sein Informant, Mann oder Frau, hatte ihn gebeten, möglichst unbemerkt zu bleiben. Die Tatsache, dass dieser Informant ihn zu Unrecht für den Kommissar gehalten hatte, war ein richtiger Glücksumstand. Er hatte die Nachricht am Abend zuvor in seiner Jackentasche gefunden, geschrieben mit Bleistift und mit der linken Hand oder doch einer im Schreiben nicht sehr geübten Hand.
Komissar, Ich habe etwas über Glayeux zu sagen, aber unter der Bedingung das ich verborgen bleiben kan. Zu gefärlich. Treffen am Bahnhof von Cérenay, Bahnsteig A, um 6h50 genau. DANKE. Seihen Sie -
die beiden Wörter waren durchgestrichen und mehrmals überschrieben worden –
möglichst unaufällig, kommen Sie vor allem nicht zu spät.
Als er in Gedanken die Ereignisse des Vortages noch einmal durchspielte, war Danglard zu dem Schluss gelangt, dass der Verfasser ihm den Zettel nur in dem Moment in die Tasche hatte schieben können, als er sich unter die Menschenmenge vor Glayeux’ Haus gemischt hatte. Vorher, im Krankenhaus, war er noch nicht drin gewesen.
Der Commandant parkte den Wagen unter einer Baumreihe und gelangte zum Bahnsteig A, indem er ungesehen um den kleinen Bahnhof herumlief. Das Gebäude lag abseits der Ortschaft, es war geschlossen und verlassen. Auch auf den Bahnsteigen keine Menschenseele. Danglard sah auf die Anzeigetafel und stellte fest, dass vor 11 Uhr 12 kein Zug in Cérenay hielt. Also null Risiko, dass in den nächsten vier Stunden irgendein Mensch hier aufkreuzen würde. Der Informant hatte einen der seltenen Plätze gewählt, wo man mit absoluter Einsamkeit rechnen konnte.
Als die Bahnhofsuhr 6 Uhr 48 zeigte, setzte Danglard sich auf eine der Bänke auf dem Bahnsteig, in leicht vorgeneigter Haltung, wie gewöhnlich, ungeduldig und ein bisschen zerschlagen. Er hatte nur wenige Stunden geschlafen, und unter neun Stunden war er praktisch zu nichts zu gebrauchen. Aber die Vorstellung, Veyrenc in die Schranken zu weisen, stimulierte ihn, ließ ihn lächeln, ja, gab ihm das Gefühl, an Bedeutung zu gewinnen. Er arbeitete mit Adamsberg seit über zwanzig Jahren zusammen, und das spontane Einvernehmen zwischen dem Kommissar und Lieutenant Veyrenc fuchste ihn sehr. Danglard war zu klug, um sich etwas vorzumachen, er wusste, dass seine Abneigung im Grunde blanke, schmähliche Eifersucht war. Er war nicht mal sicher, ob Veyrenc ihm den Platz überhaupt streitig machte, aber die Versuchung war zu groß. Ein Zeichen setzen, um Veyrenc zu überholen. Danglard hob den Kopf, schluckte, verdrängte ein vages Gefühl von Unwürdigkeit. Adamsberg war weder sein Orientierungspunkt noch sein Vorbild. Im Gegenteil, das Verhalten und die Denkungsart dieses Mannes gingen ihm meist gegen den Strich. Aber seine Achtung, ja seine Zuneigung waren ihm unerlässlich, als wenn dieses schwebende Wesen ihn schützen oder in seinem Sein rechtfertigen konnte. Um 6 Uhr 51 spürte er einen heftigen Schmerz im Nacken, griff sich mit der Hand dorthin und brach auf dem Bahnsteig zusammen. Eine Minute später lag der Körper des Commandant quer über den Schienen.
Der Bahnsteig war von allen Seiten so vollkommen einsehbar, dass Veyrenc nur in zweihundert Metern Entfernung von Danglard, im Schutz einer Verteilerstation, einen Beobachtungspunkt hatte finden können. Der Blickwinkel war nicht besonders gut, er sah den Mann erst, als dieser schon auf zwei Meter an den Commandant herangekommen war. Der Hieb, den er ihm mit der Handkante auf die Halsschlagader versetzte, und Danglards Zusammenbruch dauertennur wenige Sekunden. Als der Mann sich daranmachte, den Körper zur Bahnsteigkante zu rollen, war Veyrenc schon losgerannt. Er war noch etwa vierzig Meter entfernt, als Danglard auf die Gleise fiel. Der Mann ergriff bereits die Flucht, mit wuchtigem, rigorosem Schritt.
Veyrenc sprang ins Gleisbett, hob Danglards Gesicht an, das ihm leichenblass erschien im Morgenlicht. Sein Mund stand offen, schlaff, die Augen waren geschlossen. Veyrenc fand den Puls, hob die Lider über einem leeren Blick. Danglard war betäubt, unter Drogen oder im Begriff zu sterben. Ein großer blauer Fleck verbreitete sich seitlich auf seinem Hals, um eine deutlich sichtbare Einstichstelle herum. Der Lieutenant griff ihm mit den
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