Die Nacht des Zorns - Roman
Adamsberg und stand auf. »Führen Sie ihn ab.«
Er gab Mo ein Zeichen mit der Hand, das ihm bedeuten sollte:
Ich hatte es dir vorher gesagt. Acht Monate. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
»Sie haben recht, Kommissar«, sagte Mo plötzlich und reichte ihm seine gefesselten Hände. »Ich sollte Ihnen danken.«
Indem er Adamsbergs Hände drückte, ließ Mo ein Papierkügelchen hineingleiten. Ein größeres Kügelchen als ein zusammengeknülltes Zuckerpapier. Adamsberg schloss die Tür, nachdem er gegangen war, lehnte sich dagegen, damit niemand hereinkam, und faltete die Botschaft auseinander. Mo hatte darin in winzig kleinen Buchstaben detailliert seine Überlegungen zu der Schnur aufgeschrieben, mit der die Beine der Taube Hellebaud zusammengebunden gewesen waren. Am Schluss des Briefchens standen der Name und die Anschrift des Drecksbengels, der das getan hatte. Adamsberg lächelte und schob das Papier tief in seine Tasche.
56
Nach dem gleichen Verfahren wie beim ersten Mal hatte der Graf von Valleray am vereinbarten Tag den Osteopathen erneut an Léos Krankenbett kommen lassen. Der Arzt war seit zwanzig Minuten im Zimmer tätig, in Gegenwart allein von Dr. Merlan, der keine Einzelheit davon versäumen wollte, und des Bewachers René. Im Flur wiederholte sich beinahe die gleiche Szene, das unruhige Auf-und-ab-Gehen der Wartenden, Adamsberg, Lina, die Krankenschwester, auf einem Stuhl sitzend der Graf, der mit seinem Stock das Linoleum traktierte, die Bewacher aus Fleury vor der Zimmertür. Dasselbe Schweigen, dieselbe Spannung. Doch für Adamsberg war die Unruhe heute eine andere. Es ging nicht mehr darum, ob Léo überlebte, sondern darum, zu wissen, ob es dem Arzt gelingen würde, ihr die Sprache wiederzugeben. Die Sprache, mit der sie, oder aber nicht, den Namen des Mörders von Ordebec nennen würde. Ohne diese Aussage bezweifelte Adamsberg, ob der Richter die Beschuldigung Capitaine Émeris aufrechterhalten würde. Er würde eine so schwerwiegende Anklage nicht auf der Grundlage von sechs Zuckerpapieren erheben, die außerdem, wie sich herausgestellt hatte, nicht den geringsten Fingerabdruck aufwiesen. Und auch Émeris Angriff auf Hippolyte am Brunnen bewies in nichts, dass er die anderen Morde begangen hatte.
Für den Grafen ging es darum, zu erfahren, ob seine alte Léo ihre verlorene Vitalität wiedererlangen oder in ihrem einfältigen Schweigen verharren würde. Von der Heirat hatte er nicht mehr gesprochen. Nach all den Katastrophen,Ängsten und Skandalen, die Ordebec erschüttert hatten, schien selbst der kleine Ort erschöpft zu sein, seine Apfelbäume neigten sich noch stärker, seine Kühe schienen zu Statuen erstarrt.
Eine Regenfront und ein Zustrom kühler Luft hatten die Normandie wieder in ihren Normalzustand versetzt. So dass Lina statt in einer ihrer sehr offenherzigen geblümten Blusen in einem hochgeschlossenen Pullover erschienen war. Adamsberg war noch auf dieses Problem konzentriert, als Dr. Hellebaud endlich aus Léos Zimmer kam, zufrieden und beschwingt. Ein Tisch wurde für ihn im Schwesternzimmer gedeckt, wie beim letzten Mal. Man begleitete ihn schweigend dorthin, und der Arzt rieb sich lange die Hände, bevor er ihnen versicherte, dass vom morgigen Tag an Léo wie gewohnt reden würde. Sie hatte genügend seelische Kraft wiedererlangt, so dass er die Blockierungen hatte lösen können. Merlan sah ihm beim Essen zu, eine Wange in die Hand gestützt, in der Pose eines alten Liebhabers.
»Eins«, sagte der Osteopath zwischen zwei Bissen, »würde ich gern wissen. Dass ein Mann sich auf Sie stürzt, um Sie umzubringen, das würde jeden Menschen schockieren. Dass ein Freund es tut, würde das Trauma erheblich verschlimmern. Aber bei Léo muss etwas noch viel Gewaltigeres passiert sein, weshalb sie sich so kategorisch geweigert hat, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen. Man könnte ein solches Phänomen beobachten, wenn zum Beispiel ihr eigener Sohn sie angegriffen hätte. Ganz sicher sogar. Darum verstehe ich nicht. Aber ich bleibe dabei, es war nicht einfach ein Bekannter, der sie überfallen hat. Es war etwas mehr.«
»In der Tat«, sagte Adamsberg nachdenklich. »Es war jemand, den sie nicht mehr oft sah. Aber den sie einmal sehr gut gekannt hatte, unter ganz ungewöhnlichen Umständen.«
»Und die waren?« Der Arzt sah ihn fest an, ein erwartungsvolles Leuchten in den Augen.
»Als dieser Mann drei Jahre alt war, hat Léo sich in einen zugefrorenen Teich gestürzt, in
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