Die Nacht des Zorns - Roman
von ihrer Qual erlöst werden. So sagt es Gauchelin.«
»Nein, Danglard«, bat Adamsberg, »genug jetzt von Gauchelin. Es reicht, wir können uns das nun ganz gut vorstellen.«
»Sie waren es doch, der mich hergebeten hat, Ihnen etwas über das Heer zu erzählen«, meinte Danglard mit säuerlicher Miene.
Adamsberg zuckte die Schultern. Solche ausführlichen Wiedergaben schläferten ihn immer leicht ein, er hätte es bei weitem vorgezogen, dass Danglard sich mit einer Zusammenfassung begnügte. Aber er wusste auch, mit welchem Genuss der Commandant sich darin aalte wie in einem gänzlich mit dem besten Weißwein der Welt gefüllten See. Zumal unter dem erstaunten und bewundernden Blick von Zerk. Wenigstens erlöste diese Abwechslung ihn von dem hartnäckigen Grollen Danglards, der im Augenblick etwas zufriedener mit dem Leben zu sein schien.
»Und weiter sagt Gauchelin«, fuhr Danglard fort, lächelnd und weil er spürte, dass Adamsberg aufgab: »
Da zog eine riesige Menschenmenge zu Fuß vorbei. Sie trugen auf ihrem Rücken und auf ihren Schultern Vieh, Kleider und alle Arten von Gegenständen und verschiedene Geräte, die Räuber für gewöhnlich mit sich führen.
Ein schöner Text, nicht wahr?«, fragte er Adamsberg mit einem feinen Lächeln.
»Sehr schön«, räumte Adamsberg ein, ohne sich etwas dabei zu denken.
»Nüchternheit wie Anmut, alles drin. Das ist schon was anderes als die Verse von Veyrenc, die einem wie Beton in den Ohren liegen.«
»Das ist nicht seine Schuld, seine Großmutter liebte Racine. Sie hat ihm in seiner Kindheit jeden Tag aus seinen Dramen rezitiert, Racine und immer wieder Racine. Sie hatte die Bände aus einem Brand ihres Pensionats gerettet.«
»Sie hätte lieber ein paar Lehrbücher über Anstand und gute Manieren retten und ihrem Enkel daraus vorlesen sollen.«
Adamsberg schwieg dazu, ohne Danglard aus den Augen zu lassen. Der Prozess der Eingewöhnung würde lange dauern. Im Augenblick sah es eher nach einem Duell zwischen beiden Männern aus, genauer gesagt – und das war sogar eine seiner Ursachen –, zwischen den beiden intellektuellen Schwergewichten der Brigade.
»Aber lassen wir das«, fuhr Danglard fort. »Gauchelin sagt:
Alle wehklagten sie und spornten sich an, schneller zu gehen. Der Pfarrer erkannte in diesem Zug einige seiner vor kurzem gestorbenen Nachbarn, und er hörte sie über die großen Qualen klagen, die sie wegen ihrer Verfehlungen erdulden müßten. So sah er auch,
und hier sind wir schon ganz dicht bei Ihrer Lina,
er sah auch Landri. In den Rechtssachen und den Gerichtssitzungen urteilte er nach seinen Launen, und je nach erhaltenen Geschenken änderte er seine Urteile. Er stand mehr im Dienste der Habgier und der Falschheit als im Dienste der Gerechtigkeit.
Und darum wurde Landri, Vicomte von Ordebec, von dem Wütenden Heer ›ergriffen‹. Ein ungerechtes Urteil zu sprechen wog damals ebenso schwer wie ein blutiges Verbrechen. Während man heute darauf scheißt.«
»Ja«, stimmte Zerk zu, der keinerlei kritischen Verstand gegenüber dem Commandant zu entwickeln schien.
»Doch«, fuhr Danglard fort, »was auch immer der Zeuge tut, wenn er nach dieser Schreckensvision nach Hausekommt, wie viele Messen er auch lesen lässt, die lebenden Personen, die er in der Macht der Reiter gesehen hat, sterben in der Woche, die auf die Erscheinung folgt. Oder bestenfalls drei Wochen später. Und einen Punkt sollten wir auch für die Geschichte der kleinen Frau festhalten, Kommissar: Alle, die von dem Heer ›ergriffen‹ werden, sind Schurken, schwarze Seelen, Ausbeuter, unwürdige Richter oder Mörder. Und meistens ist ihre Untat ihren Zeitgenossen nicht mal bekannt. Straflos. Darum nimmt das Heer sich ihrer an. Wann genau hat Lina die Vision gehabt?«
»Vor über drei Wochen.«
»Dann besteht kein Zweifel«, sagte Danglard ruhig, indem er sein Glas betrachtete. »Dann ist der Mann tot. Von der Mesnie Hellequin geholt.«
»Der Mesnie, Commandant?«, fragte Zerk.
»Der Maisonnée, dem Haus Hellequin, wenn du so willst. Hellequin ist sein Seigneur.«
Adamsberg kam, wieder ein bisschen neugieriger, zum Kamin zurück und lehnte sich an die backsteinerne Einfassung. Die Tatsache, dass das Wütende Heer straflos ausgegangene Mörder kennzeichnete, interessierte ihn. Ihm wurde plötzlich klar, dass die Männer in Ordebec, deren Namen Lina genannt hatte, sich nicht mehr allzu wohl in ihrer Haut fühlen dürften. Die anderen mussten sie beobachten, sich ihre
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