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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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zumachen.«
    Zerk berührte den Vogel mit dem Fingerrücken.
    »Sie fasst sich nicht sehr warm an, trotz der hohen Außentemperatur.«

6
    Morgens um Viertel nach sechs spürte Adamsberg, wie eine Hand ihn wachrüttelte.
    »Sie hat die Augen geöffnet! Komm, sieh’s dir an. Schnell.«
    Zerk wusste immer noch nicht, wie er Adamsberg nennen sollte. »Vater«? Viel zu feierlich. »Papa«? Das lernte man in seinem Alter nicht mehr. »Jean-Baptiste«? Kumpelhaft und unpassend. So nannte er ihn einstweilen gar nicht, und dieser Mangel ließ in seinen Sätzen mitunter verwirrende Leerräume entstehen. Hohlräume. Aber diese Hohlräume drückten vollendet seine achtundzwanzig Jahre Abwesenheit aus.
    Die beiden Männer gingen die Treppe hinunter und beugten sich über den Erdbeerkorb. Es sah besser aus, ganz eindeutig. Zerk machte sich daran, den Verband von den Beinen zu lösen und sie zu desinfizieren, während Adamsberg den Kaffee durchlaufen ließ.
    »Wie wollen wir sie nennen?«, fragte Zerk, während er einen feinen sauberen Gazestreifen um die Beine wickelte. »Wenn sie überlebt, müssen wir sie schon irgendwie nennen. Wir können nicht immer ›die Taube‹ sagen. Wenn wir sie nun Violette nennen, wie die schöne Polizistin?«
    »Das geht nicht. Es würde keinem Menschen je gelingen, Retancourt zu schnappen und ihr die Beine zusammenzubinden.«
    »Nennen wir sie also Hellebaud, wie der Typ in der Geschichte vom Commandant. Denkst du, dass er seine Texte noch mal durchgesehen hat, bevor er herkam?«
    »Ja, er muss sie wohl noch mal gelesen haben.«
    »Aber selbst dann, wie hat er sie im Kopf behalten können?«
    »Versuch es nicht herauszufinden, Zerk. Denn wenn man wirklich das Innere von Danglards Kopf sehen könnte, wenn wir, du und ich, darin spazieren gehen würden, ich glaube, wir würden davor mehr erschrecken als vor jedem Getöse des Wütenden Heers.«
    Gleich nach seiner Ankunft in der Brigade sah Adamsberg im Telefonverzeichnis nach und rief Capitaine Louis Nicolas Émeri in der Gendarmerie von Ordebec an. Er nannte seinen Namen und bemerkte eine gewisse Unentschlossenheit auf der anderen Seite. Halblaut gemurmelte Fragen, Ansichten, Gebrabbel, Stühlerücken. Das Erscheinen von Adamsberg in einer Gendarmerie löste häufig diese sofortige Verunsicherung aus, jeder stellte sich die Frage, ob man seinen Anruf entgegennehmen oder ihn unter irgendeinem Vorwand abbiegen sollte. Schließlich war Louis Nicolas Émeri in der Leitung.
    »Ich höre, Kommissar«, sagte er misstrauisch.
    »Capitaine Émeri, ich rufe wegen diesem verschwundenen Mann an, dem mit dem ausgeleerten Gefrierschrank.«
    »Herbier?«
    »Ja. Gibt’s da was Neues?«
    »Nicht das Geringste. Wir haben sein Haus durchsucht und alle Nebengebäude. Keine Spur von der Person.«
    Eine angenehme, vielleicht ein wenig zu wohlartikulierte Stimme, ein sehr bestimmter und ausgenommen höflicher Tonfall.
    »Interessiert Sie etwas an der Angelegenheit?«, fuhr der Capitaine fort. »Es würde mich verwundern, wenn Sie von einem so gewöhnlichen Vermisstenfall betroffen sein sollten.«
    »Das bin ich nicht. Ich fragte mich lediglich, was Sie zu tun gedenken.«
    »Das Gesetz anwenden, Kommissar. Niemand hat einen Nachforschungsantrag gestellt, folglich fällt der Mann nicht unter die vermissten Personen. Er ist mit seinem Mofa weggefahren, und ich habe keinerlei Recht, mich an seine Fersen zu heften. Er ist ein freier Mensch«, betonte Émeri mit einer gewissen Arroganz. »Alles Vorschriftsmäßige ist getan worden, es wurde kein Verkehrsunfall gemeldet, und sein Fahrzeug wurde nirgends gesichtet.«
    »Was halten Sie von seinem Verschwinden, Capitaine?«
    »Nicht sehr verwunderlich, im Grunde. Herbier war nicht sehr beliebt in der Gegend, ja, viele hassten ihn regelrecht. Die Sache mit dem Gefrierschrank beweist vielleicht, dass einer von ihnen die leeren Drohungen leid war, was seine bestialischen Jagdmethoden angeht, Sie wissen, was ich meine?«
    »Ja. Die Weibchen und die Jungtiere.«
    »Möglich, dass Herbier eingeschüchtert wurde, dass er’s mit der Angst zu tun bekam und sich sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hat. Oder aber er hat so was wie eine Krise bekommen, Gewissensbisse, hat selber seinen Gefrierschrank ausgeräumt und alles zurückgelassen.«
    »Ja, warum nicht?«
    »Jedenfalls hatte er keinerlei Bekannte mehr in der Gegend. Da konnte er sein Leben auch woanders neu anfangen. Das Haus gehört nicht ihm, er hat es gemietet. Und seitdem er

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