Die Nacht des Zorns - Roman
die gewechselt wurden, schloss Adamsberg, dass keiner von ihnen wirklich glaubte, dass Antonin zur Hälfte aus Lehm bestand. Aber sie ließen ihren Bruder in dem Glauben, gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit und pflegten ihn, der einst in tausend Stücke zerbrochen war, als sein Vater ihn als Baby die Treppe hinuntergeworfen hatte.
»Wir sind nett«, wiederholte Hippolyte, während er sichmit einer Hand durch seine langen blonden, ein wenig schmutzigen Locken fuhr. »Aber wir werden unserem Vater keine Träne nachweinen, und auch den Dreckskerlen nicht, die Lina in der Mesnie erkannt hat. Haben Sie meine Hände gesehen, Kommissar?«
»Ja.«
»Ich bin mit sechs Fingern an jeder Hand geboren. Mit einem kleinen Finger zusätzlich.«
»Hippo ist einfach phänomenal«, sagte Antonin lächelnd.
»Das kommt nicht häufig vor, aber es kommt vor«, sagte Martin und machte sich nun an den linken Arm seines Bruders, indem er die Salbe auf ganz bestimmte Stellen aufstrich.
»Sechs Finger an der Hand, das ist ein Teufelszeichen«, ergänzte Hippo und lächelte noch breiter. »So haben sie hier immer gesagt. Als wenn einer solchen Quatsch glauben könnte.«
»Aber Sie glauben an das Heer«, meinte Danglard und bat mit einem Blick um die Erlaubnis, sich einen weiteren Fingerbreit Wein einschenken zu dürfen, der in der Tat ein veritabler Rachenputzer war.
»Wir wissen, dass Lina das Heer sieht, das ist was anderes. Und wenn sie es sieht, sieht sie’s. Aber wir glauben nicht an Teufelszeichen und anderen Quark.«
»Aber an Tote, die über den Weg von Bonneval reiten, schon.«
»Commandant Dralgnad«, sagte Hippolyte, »Verstorbene können einem sehr wohl als Wiedergänger erscheinen, ohne dass sie von Gott oder dem Teufel gesandt sind. Im Übrigen ist Hellequin ihr Seigneur. Und nicht Satan.«
»Genau«, bemerkte Adamsberg, der kein Interesse daran hatte, dass Danglard eine Polemik über Linas Armee vom Zaun brach.
Seit ein paar Minuten schon folgte er dem Gespräch etwas zerstreut, weil er, wenn auch erfolglos, damit beschäftigtwar, herauszufinden, was sein Name in umgekehrter Buchstabenfolge ergab.
»Mein Vater schämte sich sehr für meine sechsfingrigen Hände. Er verbarg sie, indem er mir Fäustlinge überzog, er verlangte von mir, von den Knien zu essen, damit ich sie nicht auf den Tisch legte. Sie ekelten ihn an, es demütigte ihn, so einen Sohn in die Welt gesetzt zu haben.«
Wieder ging ein Lächeln über die Gesichter der Brüder, als wenn diese traurige Angelegenheit mit dem sechsten Finger sie königlich amüsierte.
»Erzähl«, bat Antonin, schon in Vorfreude darauf, diese gute Geschichte von neuem zu hören.
»Eines Abends, ich war acht Jahre alt, habe ich meine beiden Hände auf den Tisch gelegt, ohne Fäustlinge, und der Vater kam rein mit einer Wut, schrecklicher als Hellequins Zorn. Er nahm seine Axt. Dieselbe Axt, die ihn später in zwei Teile zerhacken sollte.«
»Das war die Kugel in seinem Kopf, die sich mal wieder drehte«, sagte plötzlich mit beinahe wimmernder Stimme die Mutter im Hintergrund.
»Ja, Maman, sicher war es die Kugel«, sagte Hippo etwas ungehalten. »Er griff meine rechte Hand und hackte den Finger ab. Lina sagt, ich sei ohnmächtig geworden, Maman habe geschrien, der Tisch war voller Blut, und Maman warf sich auf den Vater. Aber da hatte er schon meine linke Hand gepackt, und der andere Finger musste auch dran glauben.«
»Die Kugel hatte sich gedreht.«
»Ja, ganz gewaltig gedreht, Maman«, sagte Martin.
»Maman hat mich auf ihre Arme genommen und ist mit mir zum Krankenhaus gerannt. Ich wäre unterwegs verblutet, wenn der Graf sie nicht gesehen hätte, der gerade von einer feinen Abendgesellschaft nach Hause fuhr, stimmt’s?«
»Einer piekfeinen«, bestätigte Antonin, während er seinHemd wieder überzog. »Er hat Maman und Hippo mitgenommen und ist in rasendem Tempo mit ihr los, sein schönes Auto war ganz und gar voller Blut. Der Graf ist ein guter Mensch, will ich damit sagen, den wird sich die Mesnie niemals holen. Jeden Tag hat er unsere Mutter zum Krankenhaus gefahren, damit sie Hippo besuchen konnte.«
»Aber der Arzt hat ihn nicht gut genäht«, sagte Martin voll Bitterkeit. »Wenn man heute einen sechsten Finger abnimmt, ist das fast nicht zu sehen. Während Merlan – der war es damals schon – ein Trottel ist. Er hat ihm die Hände regelrecht massakriert.«
»Ist doch nicht so schlimm, Martin«, sagte Hippolyte.
»Wir fahren heute immer nach Lisieux
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