Die Nacht des Zorns - Roman
tönernen Knochen. Etwa fünfunddreißig Jahre alt, vielleicht noch betont durch sein schmales Gesicht, in dem die angstvollen Augen viel zu groß erschienen. Die Mutter in ihrem Lehnstuhl ganz im Hintergrund des Raums nickte zum Gruß nur kurz mit dem Kopf. Sie hatte die geblümte Bluse gegen einen verwaschenen grauen Kittel getauscht.
»Émeri hätten wir nicht reingelassen«, erklärte Martin mit den schnellen und ruckartigen Bewegungen einer langbeinigen Heuschrecke. »Aber bei Ihnen ist das was anderes. Wir haben Sie zum Aperitif erwartet.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Danglard.
»Wir
sind
nett«, bestätigte Hippolyte etwas ruhiger, während er die Gläser auf den Tisch stellte. »Wer von Ihnen beiden ist Adamsberg?«
»Ich«, sagte der Kommissar und setzte sich auf einen alten Stuhl, dessen Beine mit Stricken umwickelt waren. »Und er ist mein Stellvertreter, Commandant Danglard.«
Dann sah er, dass alle Stühle mit Seilen verstärkt waren, vermutlich, um zu verhindern, dass sie zusammenbrachen und Antonin auf den Boden fiel. Aus dem gleichen Grund waren sicher auch die Gummiwülste auf die Türrahmen genagelt. Das Haus war groß, kaum möbliert, armselig mit seinem abgeblätterten Putz, den Sperrholzmöbeln, dem Luftzug unter den Türen, den fast kahlen Wänden. Und es war ein derartiges Zirpen im Raum, dass Adamsberg instinktiv einen Finger aufs Ohr drückte, so, als wäre sein Tinnitus aus den vergangenen Monaten wiedergekehrt. Martin stürzte zu einem geschlossenen Weidenkorb.
»Den bringe ich mal raus«, sagte er. »Sie machen ja doch einen Heidenlärm, wenn man nicht daran gewöhnt ist.«
»Es sind Grillen«, erklärte Lina leise. »Etwa dreißig Stück sind in dem Korb.«
»Wird Martin die heute Abend wirklich essen?«
»Die Chinesen machen das«, versicherte Hippolyte, »und die sind immer schon schlauer gewesen als wir, und seit sehr viel längerer Zeit. Martin verarbeitet sie zu Pastete, mit einer Füllung aus Ei und Petersilie. Aber ich mag’s lieber, wenn er eine Quiche daraus macht.«
»Das Fleisch der Grillen härtet den Lehm in meinen Knochen«, ergänzte Antonin. »Auch die Sonne, aber man muss sich vor dem Austrocknen hüten.«
»Émeri hat mir davon erzählt. Haben Sie dieses Problem mit dem Lehm schon lange?«
»Seit meinem sechsten Lebensjahr.«
»Greift der nur die Muskeln an oder auch Bänder und Nerven?«
»Nein, er greift die Knochen an, abschnittsweise. Aber die Muskeln setzen an den Knochen an, und an den lehmigen Abschnitten haben sie es viel schwerer. Darum bin ich auch nicht sehr stark.«
»Verstehe.«
Hippolyte entkorkte eine Flasche und goss Portwein in die Gläser – ehemalige Mostrichgläser, die mit der Zeit blind geworden oder aber schlecht abgetrocknet waren. Eines trug er seiner Mutter hin, die sich nicht aus ihrem Winkel wegbewegt hatte.
»Se driw nohcs redeiw tug nedrew«, sagte er mit einem breiten Lächeln.
»Es wird schon wieder gut werden«, übersetzte Lina.
»Wie machen Sie das?«, wollte Danglard wissen. »Die Buchstabenfolge umkehren?«
»Man braucht das Wort im Kopf nur rückwärts zu lesen. Wie ist Ihr vollständiger Name?«
»Adrien Danglard.«
»Neirda Dralgnad. Das klingt hübsch, Dralgnad. Sie sehen, es ist nicht schwer.«
Endlich musste Danglard sich mal geschlagen geben von einer Intelligenz, die der seinen absolut überlegen war, oder doch einem Spross dieser Intelligenz, der geradezu maßlos gewuchert war. Er fühlte sich geschlagen und war für einen Moment verstimmt. Hippolytes Talent fegte seine ganze klassische Bildung hinweg, sie erschien ihm auf einmal reizlos und wenig innovativ. Er kippte seinen Portwein in einem Zug hinunter. Ganz schöner Fusel, sicher zum billigsten Preis erworben.
»Was erwarten Sie von uns, Kommissar?«, fragte Hippolyte mit seinem breiten Lächeln, das irgendwie anziehend wirkte, ja sogar fröhlich, aber dennoch etwas Unheimliches hatte. Vielleicht kam es auch daher, dass er mehrere Milchzähne behalten hatte, die seine Zahnreihe sehr unregelmäßig erscheinen ließen. »Dass wir Ihnen sagen, was wir amAbend des Todes von Herbier gemacht haben? Wann war das überhaupt?«
»Am 27. Juli.«
»Zu welcher Zeit?«
»Das weiß man nicht so genau, der Leichnam wurde erst sehr viel später gefunden. Die Nachbarsleute haben Herbier gegen sechs Uhr abends weggehen sehen. Von seinem Haus bis zur Kapelle, sagen wir, eine Viertelstunde, auf den letzten dreißig Metern muss er sein Mofa geschoben
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