Die Nacht des Zorns - Roman
haben. Der Mörder erwartete ihn dort gegen 18 Uhr 15. Und es stimmt, ich muss wissen, wo Sie gewesen sind.«
Die drei Brüder und die Schwester sahen sich an, als hätte man ihnen eine idiotische Frage gestellt.
»Aber was soll das beweisen?«, fragte Martin. »Wenn wir Sie belügen, was fangen Sie dann damit an?«
»Wenn Sie mich belügen, werden Sie mir zwangsläufig verdächtig.«
»Und woran erkennen Sie das?«
»Ich bin Bulle, ich höre Lügen zu Tausenden. Mit der Zeit gewinnt man Erfahrung darin, sie zu erkennen.«
»Woran?«
»Am Blick, an einem Wimpernschlag, einer Verspannung der Gesten, einem Vibrieren in der Stimme, ihrer Schnelligkeit. Als würde derjenige auf einmal leicht hinken, statt normal weiterzulaufen.«
»Zum Beispiel«, meinte Hippolyte, »wenn ich Ihnen nicht in die Augen sehe, lüge ich?«
»Oder das Gegenteil«, meinte Adamsberg lächelnd. »Der 27. war ein Dienstag. Ich hätte gern, dass Antonin als Erster spricht.«
»Gut«, sagte der junge Mann, seine Arme noch fester auf den Bauch pressend. »Ich gehe fast nie aus dem Haus. Es ist gefährlich für mich draußen, will ich damit sagen. Ich mache Heimarbeit für einen Internethandel mit Trödel und Antiquitäten. Keine große Arbeit, aber eine Arbeit trotzdem.Dienstags gehe ich nie raus. Da ist Markttag und das Gedränge groß bis spät in den Nachmittag.«
»Er war nicht draußen«, unterbrach ihn Hippolyte und füllte Danglards Glas noch einmal nach, es war das einzige schon leere in der Tafelrunde. »Ich auch nicht. Riw neraw hcilrehcis ella reih.«
»Er sagt, dass wir sicherlich alle hier waren«, übersetzte Lina. »Aber das stimmt nicht, Hippo. Ich war an dem Abend noch lange in der Kanzlei, um eine Akte abzuschließen. Wir hatten eine umfangreiche Klageschrift bis zum 30. des Monats zu übergeben. Zur Vorbereitung des Abendessens bin ich dann nach Hause gegangen. Martin kam am Nachmittag im Büro vorbei, um Honig zu liefern. Er hatte seine Körbe dabei.«
»Stimmt«, sagte Martin und zog an seinen langen Fingern, dass die Gelenke knackten. »Dann bin ich zum Sammeln in den Wald, wo ich wahrscheinlich bis gegen sieben Uhr geblieben bin. Später hat es keinen Sinn mehr, da schlüpfen die Tiere in ihre Löcher zurück.«
»Sad tmmits«, gab Hippolyte zu.
»Nach dem Essen, wenn es im Fernsehen nichts Besonderes gibt, spielen wir oft Domino, oder wir würfeln«, sagte Antonin. »Das mag ich«, fügte er treuherzig hinzu. »An dem Abend aber konnte Lina nicht mit uns spielen, sie saß noch über ihrer Akte.«
»Enho eis thcam se reginew Ssaps.«
»Hör auf damit, Hippo«, bat Lina ihn rasch, »der Kommissar ist nicht hier, um sich mit dir zu amüsieren.«
Adamsberg betrachtete alle fünf, die Mutter, die sich in ihrem Lehnstuhl verschanzt hatte, die strahlende Schwester, die sie alle ernährte, und die drei spinnerten Genies, ihre Brüder.
»Der Kommissar weiß«, sagte Hippolyte, »dass Herbier umgebracht wurde, weil er ein Dreckskerl war, und auch, dass er der Busenfreund unseres Vaters war. Er wurde getötet,weil die Mesnie beschlossen hatte, sich ihn zu holen. Wir hätten ihn, wenn wir gewollt hätten, schon lange vorher töten können. Was ich nicht verstehe, ist, warum der Seigneur Hellequin unseren Vater vor einunddreißig Jahren geholt hat und Herbier erst so viele Jahre später. Aber es steht uns nicht zu, Hellequins Pläne zu beurteilen.«
»Lina sagt, dass der Mörder Ihres Vaters nie verdächtigt wurde. Auch von Ihnen nicht, Hippo, der Sie Lina mit der Axt in der Hand angetroffen haben?«
»Der Mörder«, antwortete Hippo, und er schlug mit seiner verstümmelten Hand einen Kreis in der Luft, »kommt von irgendwoher, nichts als schwarzer Rauch. Man wird es nie erfahren, auch bei Herbier und den drei anderen Ergriffenen nicht.«
»Werden sie sterben?«
»Aber sicher«, sagte Martin und stand auf. »Entschuldigen Sie, es wird Zeit für Antonins Massage. Wenn es halb acht schlägt. Es ist nicht gut, wenn man den Zeitpunkt verstreichen lässt. Aber fahren Sie fort, deswegen können wir Ihnen trotzdem zuhören.«
Martin nahm einen Tiegel mit einer gelblichen Mixtur aus dem Kühlschrank, während Antonin vorsichtig sein Hemd auszog.
»Das ist im Wesentlichen Schöllkrautsaft und Ameisensäure«, erklärte Martin. »Es kribbelt ein bisschen. Aber es ist sehr gut, es absorbiert seinen Lehm.«
Martin begann den knochigen Oberkörper seines Bruders sanft mit der Salbe einzureiben, und aus den wenigen Blicken,
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