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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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andere Möglichkeit des Nachdenkens kannte Adamsberg nicht. Abwarten, sein Netz aufs Wasser werfen, ab und zu hineinsehen.
    In der Küche stand Danglard mit hochgekrempelten Ärmeln und kochte und redete, und Zerk sah und hörte ihm andächtig zu.
    »Es ist sehr selten«, sagte Danglard, »dass der kleine Zeh gut gebaut ist. Im Allgemeinen ist er missgestaltet, krumm, zusammengeschrumpft, ganz zu schweigen vom Nagel, der ziemlich verkümmert ist. Jetzt, wo die Stücke auf einer Seite gebräunt sind, kannst du sie wenden.«
    Adamsberg lehnte sich an den Türrahmen und sah seinem Sohn zu, wie er die Anweisungen des Commandant befolgte.
    »Kommt das von den Schuhen?«
    »Es ist die Evolution. Der Mensch läuft weniger, der letzte Zeh verkümmert, er ist im Verschwinden begriffen. Eines Tages in ein paar hunderttausend Jahren wird von ihm nur noch ein Nagelfragment an der Seite unseres Fußes übrig sein. Wie beim Pferd. Die Schuhe machen es natürlich auch nicht besser.«
    »Dasselbe wie bei unseren Weisheitszähnen. Sie haben keinen Platz mehr zum Wachsen.«
    »Genau. Der kleine Zeh ist, wenn du so willst, so was wie der Weisheitszahn des Fußes.«
    »Oder der Weisheitszahn ist der kleine Zeh des Mundes.«
    »Ja, aber in dieser Version versteht man es nicht so gut.«
    Adamsberg kam herein, goss sich einen Kaffee ein.
    »Wie war’s?«, fragte Danglard.
    »Sie hat mich verstrahlt.«
    »Gefährliche Wellen?«
    »Nein, goldene. Sie ist ein bisschen zu dick, sie hat vorstehende Zähne, aber sie hat eine starke Ausstrahlung.«
    »Also gefährlich«, meinte Danglard in missbilligendem Ton.
    »Ich glaube, ich habe Ihnen noch nie von dem Gugelhupf mit Honig erzählt, den ich als Kind bei einer Tante gegessen habe. Genau das ist sie, in eins fünfundsechzig Höhe.«
    »Vergessen Sie nicht, dass diese Vendermot eine krankhafte Spinnerin ist.«
    »Schon möglich. Man merkt es ihr nicht an. Sie ist gleichzeitig selbstbewusst und kindisch, schwatzhaft und vorsichtig.«
    »Und am Ende hat sie auch noch hässliche Zehen.«
    »Verkümmerte«, korrigierte Zerk.
    »Das ist mir egal.«
    »Wenn es schon so weit ist«, knurrte Danglard, »sind Sie für die Ermittlung nicht mehr zu gebrauchen. Ich überlasse Ihnen das Abendessen und übernehme Ihre Ablösung.«
    »Nein, ich bin um sieben Uhr mit ihren Brüdern verabredet. Veyrenc kommt heute Abend, Commandant.«
    Danglard nahm sich die Zeit, ein halbes Glas Wasser über die Hühnerschenkel zu gießen, die Kasserolle zuzudecken und das Gas herunterzudrehen.
    »So lässt du es eine Stunde lang köcheln«, sagte er zu Zerk, dann wandte er sich zu Adamsberg um. »Wir brauchen Veyrenc nicht, warum lassen Sie ihn herkommen?«
    »Er hat sich ganz allein und ohne ersichtlichen Grund eingeladen. Was meinen Sie, Danglard, warum legt sich eine Frau einen Schal um die Schultern bei diesem Wetter?«
    »Falls es regnet«, sagte Zerk. »Im Westen ziehen Wolken auf.«
    »Um einen Makel zu verbergen«, konterte Danglard. »Eine Warze oder ein Teufelszeichen.«
    »Das ist mir egal«, wiederholte Adamsberg.
    »Menschen, die das Wütende Heer sehen, Kommissar, sind keine beglückenden Geschöpfe, keine sonnigen Gemüter. Es sind finstere, unheilvolle Seelen. Mit Strahlkraft oder ohne, vergessen Sie das nicht.«
    Adamsberg sagte nichts dazu und zog wieder seine Papierserviette hervor.
    »Was ist das?«, fragte Danglard.
    »Ein Wort, das mir nichts sagt.
Maschine

    »Wer hat es geschrieben?«
    »Na ich, Danglard.«
    Zerk nickte, als verstünde er vollkommen.

23
    Lina bat ihn in den großen Wohnraum, wo drei Männer ihn erwarteten, sie standen Seite an Seite an einem langen Tisch und sahen ihn prüfend an. Adamsberg hatte Danglard gebeten mitzukommen, damit er sich selbst von besagter Strahlkraft überzeugte. Er erkannte leicht den mittleren der Brüder, Martin, hoch aufgeschossen, mager und braun wie ein dürrer Ast, der das verdorbene Essen aus dem Tischbein hatte schlucken müssen. Hippolyte, der Älteste, ein Mann um die vierzig, hatte einen breiten, blonden Schädel und war seiner Schwester sehr ähnlich, wenn auch ohne das Strahlungsprinzip. Er war hochgewachsen und kräftig gebaut und streckte ihm eine große, etwas missgestaltete Hand entgegen. Ganz am Ende des Tisches stand Antonin und sah ihnen furchtsam entgegen. Braun und schmächtig wie sein Bruder Martin, doch besser proportioniert, hielt er die Arme wie zu seinem Schutz auf seinen hohlen Bauch gepresst. Er war der Jüngste, der mit den

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