Die Nacht des Zorns - Roman
Kopfnicken.
Als Lina aufstand, um sie zu verabschieden, glitt ihr Schal auf den Boden, und sie stieß einen kleinen Schrei aus. Mit ritterlicher Geste hob Danglard ihn auf und legte ihn ihr wieder um die Schultern.
»Nun, was meinen Sie, Commandant«, fragte Adamsberg, während sie langsam den Weg zu Léos Herberge zurückgingen.
»Eine potentielle Mörderfamilie«, sagte Danglard bedächtig, »mit großem Zusammengehörigkeitsgefühl, abgeschottet gegen die Außenwelt. Allesamt verrückt, durchgeknallt, schwer misshandelt, hochbegabt und wahnsinnig sympathisch.«
»Ich meine die Strahlung. Haben Sie’s bemerkt? Obwohl Lina sich in Gegenwart ihrer Brüder zurückhält.«
»Ich habe es bemerkt«, gab Danglard widerstrebend zu. »Den Honig auf ihrer Brust und so. Aber es ist eine unheimliche Strahlung. Infrarot oder Ultraviolett, oder gar schwarzes Licht.«
»Sie sagen das wegen Camille. Aber Camille will mich nur noch auf die Wange küssen. Mit diesem gezielten, punktgenauen Kuss, der andeuten will, dass man nie mehr miteinander schlafen wird. Das ist unbarmherzig, Danglard.«
»Eine milde Strafe in Anbetracht des erlittenen Unrechts.«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun, Commandant? Soll ich mich jahrelang unter einen Apfelbaum hocken und auf Camille warten?«
»Der Apfelbaum ist nicht zwingend.«
»Soll ich die atemberaubende Brust dieser Frau nicht bemerken?«
»Sie sagen es«, gab Danglard zu.
»Eine Sekunde«, sagte Adamsberg und blieb stehen.»Nachricht von Retancourt. Unserem Schlachtschiff auf Tauchgang in den haifischigen Abgründen.«
»Untiefen«, korrigierte Danglard und reckte den Hals nach dem Display. »Und ›haifischig‹ gibt es nicht. Übrigens, ein Schlachtschiff taucht nicht.«
Erl 1 in der Brandnacht spät nach Hause gekommen, nicht informiert. Stimmung nahezu normal. Würde sein Nichtinvolviertsein bestätigen. War aber nervös.
Nervös inwifern?,
tippte Adamsberg ein.
»Schreibt man mit ›ie‹.«
»Gehen Sie mir nicht auf den Geist, Danglard.«
Hat ein Zimmermädchen gefeuert.
Warum?
Umständlich zu erklären, unwichtig.
Erklären Sie trotzdem.
Erl 1 hat dem Labrador bei Rückkehr Zucker gegeben.
»Was haben die Leute bloß, Danglard, dass sie ihren Hunden immer Zucker geben müssen?«
»Sie wollen geliebt werden. Weiter.«
Labrador lehnt ab. Zimmermädchen nimmt Tier mit, gibt noch mal Zucker. Wieder abgelehnt. Zim kritisiert Zucker. Erl 1 feuert sie noch selben Abend. Also nervös.
Weil Zim es nicht geschafft hat, dass Hund Zuck nimmt?
Unwichtig. Schon gesagt. Ende.
Zerk kam mit großen Schritten auf sie zu, die Fotoapparate über der Schulter hängend.
»Der Graf ist da gewesen, er will dich nach dem Essen sehen, so gegen zehn.«
»Ist es dringend?«
»Hat er nicht gesagt, er hat’s eher befohlen.«
»Was für ein Typ ist er?«
»Man erkennt, dass er der Graf ist. Er ist alt, elegant, kahlköpfig und trägt eine abgewetzte Arbeitsjoppe aus blauem Leinen. Das Huhn ist fertig gegart, Commandant.«
»Hast du Sahne und Kräuter dazugegeben, wie sich’s gehört?«
»Ja, in letzter Minute. Ich hab der Taube was davon gebracht, hat ihr super geschmeckt. Sie hat den ganzen Tag Kühe gezeichnet, mit meinen Stiften.«
»Also kann sie doch zeichnen?«
»Eigentlich nicht. Aber es ist auch verdammt schwer, eine Kuh zu zeichnen. Pferde sind leichter.«
»Wir essen schnell dieses Huhn, Danglard, dann gehen wir.«
24
Bei Einbruch der Nacht hielt Adamsberg mit dem Wagen vor dem Gittertor des Schlosses, das auf der Anhöhe gegenüber der Ordebequer Altstadt lag. Mit ungewohnter Wendigkeit fädelte Danglard seinen großen Körper aus dem Fahrzeug und postierte sich vor dem Gebäude, beide Hände um die Gitterstäbe geschlossen. Adamsberg las auf seinem Gesicht den Ausdruck reinen Entzückens, einen Zustand ohne alle Melancholie, den Danglard sehr selten erreichte. Er warf einen Blick auf das Schloss aus hellem Gestein, das für seinen Stellvertreter vermutlich so etwas wie einen Gugelhupf mit Honig bedeutete.
»Ich hatte Ihnen ja gesagt, es würde Ihnen hier gefallen. Wie alt ist dieses Schloss?«
»Die ersten Lehnsherren von Ordebec gab es schon zu Beginn des 11. Jahrhunderts. Doch erst in der Schlacht von Orléans im Jahr 1428 macht ein gewisser Graf von Valleray von sich reden, der sich den französischen Truppen angeschlossen hat, die vom Grafen von Dunois, sprich Jean, dem Bastard von Louis, Herzog von Orléans, befehligt werden.«
»Gut,
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