Die Nacht des Zorns - Roman
eine Ausnahme.«
»Das überrascht mich nicht. Schick mir das Ergebnis, danach benutz diese Telefone nie mehr und hau dort ab.«
»Problem?«, fragte Retancourt gelassen.
»Ein erhebliches.«
»Gut.«
»Wenn er sich selbst vor seiner Rückkehr die Haare geschnitten hat, könnte er auf der Kopfstütze in seinem Wagen welche zurückgelassen haben. Hat er ihn seit dem Mord gefahren?«
»Nein, immer der Chauffeur.«
»Suchen wir also nach winzigen Haaren auf dem Fahrersitz.«
»Ohne Durchsuchungsgenehmigung, versteht sich.«
»Genau, Lieutenant, die kriegen wir nie.«
Er lief noch zwanzig Minuten, bis er den Anfang des Bonneval-Weges erreichte, in Gedanken beschäftigt und irritiert von dem so plötzlichen Haarschnitt von Christian Clermont-Brasseur. Doch nicht er hatte seinen Vater im Mercedes zurückgefahren. Er war schon früher gegangen, leicht angeheitert, und hatte noch eine Frau besucht, deren Namen man nie erfahren würde. Und nachdem man ihm die Nachricht vom Tod seines Vaters überbracht hatte, hatte er vielleicht einen seriöseren Haarschnitt gewünscht, als Ausdruck der Trauer um ihn.
Vielleicht. Aber da war Mo, der sich in der Hitze seiner Zündeleien mitunter die Haare angekokelt hatte. Wenn Christian den Wagen in Brand gesetzt und wenn er sich dabei ein paar Haarsträhnen versengt hatte, hatte er das in Eile kaschieren müssen, indem er das ganze Haar möglichst kurz schnitt. Aber Christian war gar nicht am Ort gewesen, man kam immer wieder an den Punkt zurück, und nichts nervte Adamsberg mehr, als sich im Kreise zu drehen, ganz im Gegensatz zu Danglard, der sich, bis ihm schwindelig wurde, in so einem Kreis verrennen und dann in seinen eigenen Fußstapfen versacken konnte.
Er zwang sich, die Brombeeren nicht zu beachten und, immer auf den Spuren der alten Léo, seine Aufmerksamkeit auf den Weg von Bonneval zu konzentrieren. Er kam an dem dicken Baumstamm vorbei, wo er sich neben sie gesetzt hatte, dachte einen Moment intensiv an sie, verweilte lange an der Kapelle des heiligen Antonius, der einem half, alles Verlorene wiederzufinden. Seine Mutter trällerte den Namen dieses Heiligen bei jeder Kleinigkeit, die sie verlegt hatte, in einem nervtötenden Liedchen. »Heiliger Antonius von Padua, gib, dass ich finde mein Dingesda.« Als Kind war Adamsberg ziemlich schockiert, dass seine Mutter so ungeniert Saint-Antoine bemühte, bloß um einen Fingerhut wiederzufinden. Ihm jedenfalls half der Heilige nicht, er fand nichts auf dem Weg. Pflichtbewusst ging er ihn noch einmal in der Gegenrichtung und setzte sich auf halbem Wege auf den umgehauenen Stamm, diesmal mit einem Vorrat an Brombeeren, die er auf der Baumrinde ablegte. Er sah sich auf dem Display seines Telefons erneut die Fotos an, die Retancourt ihm geschickt hatte, verglich sie mit denen, die Valleray ihm überlassen hatte. Da gab es in seinem Rücken ein Krachen, und Flem brach aus dem Unterholz, mit dem seligen Ausdruck eines Kerls, der der Puppe auf dem Nachbarhof gerade einen erfolgreichen Besuch abgestattet hat. Flem legte ihm seine sabbelnde Schnauze aufs Knie und sah ihn mit jenem Flehen in den Augen an, das kein menschliches Wesen mit einer solchen Entschlossenheit hinkriegt. Adamsberg tätschelte ihm die Stirn.
»Und jetzt willst du dein Stück Zucker? Aber ich habe keins, Kumpel. Ich bin nicht Léo.«
Flem ließ nicht locker, er legte seine erdigen Pfoten auf Adamsbergs Hosenbein und verstärkte sein Flehen.
»Kein Zucker, Flem«, wiederholte der Kommissar mit Nachdruck. »Der Brigadier gibt dir eins, nachher um sechs. Willst du eine Brombeere?«
Adamsberg hielt ihm eine Beere hin, die das Tier verschmähte.Als es die Vergeblichkeit seiner Bitte oder auch die Uneinsichtigkeit dieses Typen zu begreifen schien, begann es im Erdreich zu Adamsbergs Füßen zu scharren, große Mengen Laub aufwirbelnd.
»Flem, du zerstörst den Mikrokosmos von vermodertem Laub.«
Der Hund setzte sich hin und sah ihn unverwandt an, sein Blick ging vom Boden zu Adamsbergs Gesicht, die eine seiner Pfoten lag auf einem kleinen weißen Papier.
»Ja, Flem, das ist ein Zuckerpapier. Aber es ist leer. Es ist alt.«
Adamsberg schob sich eine Handvoll Beeren in den Mund, aber Flem beharrte, setzte seine Pfote auf eine andere Stelle, führte diesen Mann, der eine Ewigkeit brauchte, ihn zu verstehen. Innerhalb einer Minute sammelte Adamsberg sechs alte Zuckerpapierchen vom Boden auf.
»Alle leer, Kumpel. Ich weiß, was du mir erzählen willst: Das hier
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