Die Nacht des Zorns - Roman
ist eine Zuckermine. Ich weiß, an dieser Stelle gab dir Léo, nachdem du da drüben auf dem Gehöft deine Nummer gemacht hattest, immer dein Stückchen Zucker. Ich verstehe deine Enttäuschung. Aber ich habe nun mal keinen Zucker.«
Adamsberg stand auf und ging ein paar Meter weit in der Hoffnung, Flem seiner aussichtslosen Besessenheit zu entreißen. Der Hund folgte ihm leise winselnd, und plötzlich machte Adamsberg kehrt, setzte sich wieder auf den Baumstamm, in genau der Position, in der er damals neben Léo gesessen hatte, rief sich die Szene ins Gedächtnis zurück, die ersten Worte, die sie gewechselt hatten, dann das Auftauchen des Hundes. Wenn Adamsbergs Verstand auch untauglich für das Speichern von Wörtern war, so erinnerte er sich doch mit äußerster Genauigkeit an alles, was Bilder anging. Klar wie einen Federstrich sah er Léos Geste vor Augen. Léo hatte den Zucker nicht aus dem Papier gewickelt, weil da gar kein Papier drum war. Sie war nicht der Mensch,der eingewickelten Zucker mit sich herumtrug, es war ihr vollkommen egal, dass sie ihre Taschen, ihre Finger oder den Zucker beschmutzte.
Sorgfältig sammelte er die sechs staubigen Papierchen auf, die Flem ausgebuddelt hatte. Jemand anders hatte hier Zucker gegessen. Die Papierchen mochten schon gut zwei Wochen hier liegen, dicht beieinander, als wenn sie alle mit einem Mal weggeworfen worden wären. Ja und, was weiter? Außer der Tatsache, dass man auf dem Weg von Bonneval war? Eben. Vielleicht hatte ein Jugendlicher auf dem Baumstamm gesessen in der Nacht, als er auf das Erscheinen des Wütenden Heeres wartete – denn das war die Wette, die manche untereinander eingingen –, und hatte Zucker gegessen, um sich zu stärken. Oder hatte in der Mordnacht hier Station gemacht? Und hatte den Mörder vorbeikommen sehen?
»Flem«, sagte er zu dem Hund, »hast du Léo diese Papiere gezeigt? In der Hoffnung auf eine kleine Zugabe?«
Adamsberg dachte an seinen Besuch am Krankenbett und deutete die drei Worte, die die alte Frau gehaucht hatte,
Hello, Flem, Zucker,
nun in einem anderen Sinne.
»Flem«, wiederholte er, »Léo hat diese Zuckerpapiere gesehen, stimmt’s? Sie hat sie gesehen? Und ich werde dir sogar sagen, wann sie sie gesehen hat. An dem Tag, an dem sie Herbiers Leiche entdeckt hat. Sonst hätte sie im Krankenhaus nicht darüber gesprochen, mit der wenigen Kraft, die sie nur hatte. Aber warum hat sie am Abend davor nichts gesagt? Meinst du, dass sie erst später begriffen hat? Wie ich? Mit Verzögerung? Am nächsten Tag? Aber
was
begriffen, Flem, was?«
Adamsberg schob die Papierchen behutsam in den Umschlag mit den Fotos.
»Was hat sie begriffen, Flem?«, fuhr er fort, während er weiterlief und dieselbe Abkürzung wählte, die Léo genommen hatte. »Was? Dass es bei dem Mord einen Zeugen gegebenhaben muss? Woher wusste sie, dass die Papierchen an jenem Abend weggeworfen wurden? Weil sie auch am Tage vor dem Mord mit dir dort war? Und sie noch nicht da lagen?«
Der Hund lief ausgelassen den Pfad hinunter, pinkelte an dieselben Bäume wie beim ersten Mal, und die Herberge kam in Sicht.
»Das kann es nur sein, Flem. Ein Zeuge, der Zucker fraß. Und der die ganze Bedeutung dessen, was er gesehen hatte, erst begriffen hat, als er später von dem Mord hörte und das Datum des Mordes erfuhr. Aber ein Zeuge, der schweigt, weil er Angst hat. Vielleicht wusste Léo ja, welcher Junge in jener Nacht seine Mutprobe auf dem Weg abgelegt hatte.«
Fünfzig Schritt vor der Herberge sauste Flem los, auf ein Auto zu, das am Straßenrand stand. Brigadier Blériot kam dem Kommissar entgegen. Adamsberg lief schneller in der Hoffnung, er wäre im Krankenhaus vorbeigefahren und brächte neue Nachrichten.
»Nichts zu machen, man findet einfach nicht heraus, was sie hat«, sagte er zu Adamsberg, ohne ihn zu begrüßen, und breitete seufzend seine kurzen Arme aus.
»Verdammt, Blériot. Was geht da vor sich?«
»Sie hat immer so ein Rasseln seitlich.«
»Ein Rasseln?«
»Ja, kein Schubwiderstand, ihr geht immer gleich die Puste aus. Bergab dagegen und auf ebener Strecke ganz normal.«
»Aber von wem sprechen Sie denn, Blériot?«
»Na, von der Karre hier, Kommissar. Und bevor die Präfektur uns eine neue gibt, werden wir fünf Mal die Äpfel fallen sehen.«
»Okay, Brigadier. Wie ist die Vernehmung von Mortembot ausgegangen?«
»Er weiß nichts, wirklich nicht. Ein richtiger Waschlappen«, sagte Blériot ein bisschen traurig, während er
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