Die Nacht des Zorns - Roman
Flemstreichelte, der an ihm hochgesprungen war. »Ohne Glayeux ist er nichts.«
»Er will sein Stück Zucker«, erklärte Adamsberg.
»Er will vor allem in seiner Zelle bleiben. Erst hat dieser Hornochse mich beschimpft, dann hat er versucht, mir eins in die Fresse zu hauen in der Hoffnung, das würde ihm einen längeren Aufenthalt im Knast einbringen. Ich weiß doch Bescheid.«
»Verstehen wir uns recht, Blériot«, sagte Adamsberg und wischte sich am Ärmel seines T-Shirts den Schweiß von der Stirn, »ich wollte nur sagen, dass der Hund seinen Zucker haben will.«
»Es ist noch nicht sechs.«
»Ich weiß, Brigadier. Aber wir waren im Wald, er war bei der Hündin auf dem Gehöft, und nun will er sein Stück Zucker.«
»Dann müssen Sie es ihm schon selber geben, Kommissar. Ich habe gerade am Motor gebastelt, und wenn meine Hände nach Benzin riechen, da ist nichts zu machen, nimmt er mir einfach nichts ab.«
»Ich habe keinen Zucker, Brigadier«, erklärte Adamsberg geduldig.
Wortlos wies Blériot auf seine Hemdentasche, die voll mit eingewickeltem Würfelzucker war.
»Bedienen Sie sich.«
Adamsberg zog einen heraus, machte das Papier ab und gab den Zucker Flem. Das also war erledigt, endlich, eine Kleinigkeit.
»Schleppen Sie immer so viel Zucker mit sich herum?«
»Ja, und?«, brummelte Blériot.
Adamsberg spürte, dass seine Frage zu direkt gewesen war und an ein persönliches Problem rührte, das Blériot nicht gewillt war zu erklären. Vielleicht litt der dicke Brigadier unter Hypoglykämie-Anfällen, jenem plötzlichen Absinken des Blutzuckerspiegels, das einem die Beine weghautund den Schweiß auf die Stirn treibt, wie einem
Waschlappen
kurz vor der Ohnmacht. Oder vielleicht fütterte er damit die Pferde. Oder stopfte ihn gelegentlich in den Benzintank seiner Feinde. Oder warf ihn in ein morgendliches Glas Calvados.
»Können Sie mich bis zum Krankenhaus mitnehmen, Brigadier? Ich muss den Arzt noch sprechen, bevor er zurückfährt.«
»Es scheint, er hat die Léo wieder hochgeholt, wie man einen Karpfen aus dem Schlamm zieht«, sagte Blériot und setzte sich hinters Steuer, Flem sprang auf die Rückbank. »Einmal hab ich doch tatsächlich eine Forelle aus der Touques gezogen. Einfach so mit der Hand. Muss wohl auf einen Felsen aufgeschlagen sein oder so was. Ich habe es aber nicht übers Herz gebracht, sie zu essen, keine Ahnung warum, ich hab sie wieder ins Wasser geworfen.«
»Was machen wir mit Mortembot?«
»Das Weichei möchte heute Nacht in der Gendarmerie bleiben. Darauf hat er ein Anrecht, bis morgen 14 Uhr. Danach – also, ich weiß nicht. Jetzt wird er’s wohl bereuen, dass er seine Mutter umgebracht hat. Bei ihr wäre er in Sicherheit gewesen, das war nicht die Sorte Frau, die sich solchen Blödsinn erzählen lässt. Und wenn er sich außerdem ruhig verhalten hätte, hätte der Hellequin auch nicht seine Armee auf ihn gehetzt.«
»Glauben Sie an die Armee, Brigadier?«
»Aber nicht doch«, brummelte Blériot. »Ich sag halt, was man so sagt, das ist alles.«
»Gibt es viele Jungs, die nachts auf den Weg gehen?«
»Ja. All die kleinen Kretins, die sich nicht trauen, nein zu sagen.«
»Wem gehorchen sie?«
»Den älteren Kretins. So läuft die Sache. Entweder du verbringst eine Nacht auf dem Bonneval, oder du hast keinen Arsch in der Hose. So einfach ist das. Ich hab’s gemacht,da war ich fünfzehn. In dem Alter, kann ich Ihnen sagen, ist es mit dem Mut nicht weit her. Und Feuer machen darf man nicht, das verbietet die Regel.«
»Weiß man, wer dieses Jahr draußen war?«
»Weder in diesem noch in anderen Jahren. Es rühmt sich hinterher keiner damit. Weil die Kumpels am Ausgang auf einen warten, und die sehen es, wenn man sich in die Hose gepisst hat. Oder noch schlimmer. Also gibt keiner damit an. Es ist wie eine Sekte, geheim.«
»Müssen die Mädchen auch mitmachen?«
»Unter uns, Kommissar, in solchen Dingen sind die Mädels tausendmal weniger bekloppt als die Jungs. Bereiten sich doch nicht freiwillig Unannehmlichkeiten. Nein, natürlich gehen die nicht.«
Dr. Hellebaud beendete gerade eine kleine Mahlzeit in dem Raum, den man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er plauderte angeregt mit zwei Krankenschwestern und einem geradezu leutseligen Dr. Merlan, der inzwischen restlos von ihm eingenommen war.
»Sie sehen mich, mein Freund«, sagte er, Adamsberg begrüßend, »bei einem kleinen Imbiss vor meinem Aufbruch.«
»Wie geht es ihr?«
»Ich habe eine zweite
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