Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
furchtbaren Dinge, die man erlebt hat, nicht möglich.«
Genau deshalb rede ich mit Miss Winters. Sie ist anders als diese blöden Therapeuten. Sie weiß Bescheid. Sie kennt Menschen wie mich. Und wenn ich abwehren will, was nicht mehr da ist, was in der Vergangenheit liegt, ergreift sie einfach meine Hand und lächelt, und ich kann an ihren Augen ablesen, dass sie mich nicht für verrückt hält. Sie weiß ohne viele Worte, dass ich in solchen Momenten etwas sehe, das nicht wirklich ist – dass mir die Unwirklichkeit bewusst ist – dass diese Erinnerungen Echos früherer Wirklichkeiten sind. Nur dass ich sie immer noch manchmal wie zeitversetzt vor Augen habe.
Anfangs kommt es mir vor, als würden Spinnweben am Rand meines Blickfelds hängen oder als würde der Schatten einer Staubflocke vor meinen Augen schweben. Ich kann sie nicht wegwischen, obwohl ich es ständig versuche, und danach versuche ich ebenso vergeblich, die Schatten zu vertreiben. Ich probiere es zuerst, indem ich über meine Haare bürste. Sie müssen es sein. Sie hängen vor meinem Gesicht, werden von einer Brise gebauscht, die ich weder sehen noch spüren kann …
Aber das erweist sich jedes Mal als Irrtum, und ich fuchtele wie wild in der Luft herum. Da müssen Spinnweben sein. Es geht gar nicht anders.
Auch das erweist sich als Irrtum.
Und was ich aus den Augenwinkeln sehe, kriecht immer näher, und es ist nicht mehr grau und verwischt, sondern nimmt Farbe und Gestalt an, wird immer greifbarer.
Ich weiß, dass es nicht real ist, weil ich es immer sehen kann, egal an welchem Ort ich mich aufhalte … Aber ich sehe auch diese anderen Dinge – ich spüre sie.
Und ich rede mir vergeblich ein, dass es unwirklich ist, denn das stimmt nicht: Die Vergangenheit war ebenso real wie die Gegenwart. Die Zeit ist das Problem, und wie soll ich etwas so Abstraktes lösen können? Wie soll ich zwischen damals und heute unterscheiden, wenn sich all diese Gefühle und Gerüche und Geräusche mit einschleichen? Wenn ich das Damals plötzlich wieder leibhaftig vor Augen habe, wenn es nicht mehr vage und fern, sondern ganz klar und gegenwärtig ist?
Genau darum finde ich die Geschichte von Alice im Wunderland so schrecklich. Amy wollte sie mir vorlesen, aber ich habe sie gebeten aufzuhören, weil ich beim Zuhören das Gefühl hatte, wieder in die Vergangenheit und Unwirklichkeit zu stürzen. Alle Charaktere in diesem Buch sind verrückt, aber lustig – alle wirken glücklich. Aber falls ich jemals wieder in mein Kaninchenloch stürzen sollte, würde ich von den Echos in die Tiefe gezogen werden, tiefer und immer tiefer, bis alle meine Gewissheiten ins Wanken geraten würden. Und dann würde alles von neuem aufleben: Die grauen, schemenhaften Bilder der Zimmer im Haus von Fionas Eltern … Der unter meiner nackten Haut bebende Fußboden … Mein altes, durchgelegenes Bett, so weich, so nachgiebig, dass ich mich nicht wehren konnte, weil es keinen Halt mehr gab.
»Evie«, sagt Miss Winters fast befehlend. »Tief durchatmen, Evie.«
Ich merke, dass ich keuche. Als ich Luft holen will, muss ich husten.
»Gut«, sagt Miss Winters, die sich vorbeugt und meinen Rücken reibt, während ich mich zusammenkrümme und rüttelnd huste. »Langsam und tief durchatmen.«
Als ich die Luft langsam durch die Zähne zischen lasse, die heiße Stirn auf die Knie gedrückt, klopft Miss Winters mir auf die Schulter. »Ich hole dir ein Glas Wasser.«
Bei ihrer Rückkehr erwärmt sich der Drache in meiner Hand. Ich richte mich auf und schaue aus dem Fenster.
»Evie, mein Liebes«, sagt Amy. Ich will gerade den Bezug meiner Decke wechseln, und sie klingt so seltsam, dass ich innehalte. Sie starrt das Bettlaken an. Ich sehe erst jetzt, dass es voller Matsch ist. »Was, um Himmels willen, hast du da gemacht?«, fragt sie und schiebt die Decke zurück, um die Flecken genauer betrachten zu können.
»Das kann man waschen, oder?«
»Ja, sicher«, antwortet Amy, »aber woher kommt der Dreck? Und hier«, fügt sie hinzu und geht zu dem Stuhl, auf den ich immer meine Kleider lege. »Deine Jeans ist auch dreckig … und nass.« Sie dreht sich besorgt zu mir um, mustert mich von Kopf bis Fuß. »Du bist doch nicht etwa in dieser Hose rumgelaufen, mein Liebes? Es wäre schlecht, wenn du so kurz nach der Operation eine Erkältung bekommen würdest.«
»Ich bin fit«, unterbreche ich sie und knülle die dreckigen Kleider und die Laken zusammen. »Ich tue Fleckensalz in die
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