Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Begrüßung und nehme ihr den Mantel ab.
»Vergesst mich einfach«, sagt er und bleibt lächelnd in der Tür stehen. »Ich habe Amy versprochen, einen Blick auf ihren Computer zu werfen. Ich komme euch nicht in die Quere.«
Miss Winters dreht sich zu ihm um und will ihm höflich die Hand geben – da geschieht etwas Seltsames. Sie hält inne, obwohl ihr Arm für ein bequemes Händeschütteln noch nicht weit genug ausgestreckt ist. Ihr steht etwas wie Überraschung ins Gesicht geschrieben, ihre Augen leuchten auf. Onkel Bens übliches Grinsen ist verflogen. Er zieht ein Gesicht wie jemand, der auf dem Weg nach unten die letzte Treppenstufe übersieht und beinahe stürzt, weil er den Fußboden wider Erwarten noch nicht erreicht hat. Sie scheinen einander zu erkennen … oder auch nicht. Dann ist alles wie immer, beide treten einen Schritt vor, schütteln sich die Hand.
Eigentlich ist alles ganz normal … aber Miss Winters klingt sonderbar, spricht mit einem Unterton, den ich nicht genau einordnen kann, obwohl sie nur sagt: »Freut mich, Sie endlich kennenzulernen.«
»Ja. Prima. Ich sollte euch jetzt wohl allein lassen«, sagt Onkel Ben, und er klingt fast scheu.
»Ich mache uns erst einen Tee«, sage ich. »Kommt mit.« Und während ich zur Küche gehe, sehe ich über die Schulter, wie Miss Winters und Onkel Ben gleichzeitig zurückweichen, um einander den Vortritt zu lassen. Beide lachen verlegen, als Onkel Ben ihr durch eine Geste zu verstehen gibt, sie solle vorgehen.
»Warum das Geschenk?«, fragt Miss Winters. »Hast du nicht im März Geburtstag, Evie?«
»Ja«, sage ich, hole einen dritten Becher und schalte den Wasserkocher ein. »Aber Onkel Ben verwöhnt mich das ganze Jahr.«
Onkel Ben lächelt, wippt auf den Hacken vor und zurück. »Na ja, bei einem Buch kann man wohl kaum von Verwöhnen sprechen. Zumal es ein Kunstband ist.«
»Er feilt an der Ausrede für Amy«, erkläre ich Miss Winters.
»Meine Schwester hat jede Menge Regeln«, haucht Onkel Ben theatralisch.
Miss Winters Lächeln ist warmherzig, ihr Blick beinahe zärtlich, als sie erwidert: »Schwer vorstellbar, dass sie bei einem so wunderbaren Geschenk zur Anwendung kommen. Ich will damit sagen«, fügt sie hastig hinzu, »dass es immer gut ist, das Interesse an Kunst zu fördern.«
»Ich überlasse die Damen jetzt ihrem Tee und ihren Studien«, sagt er und zerzaust mein Haar. »Bis später.«
Doch als ich aufblicke, nachdem ich meinen Stuhl an den Tisch gezogen habe, steht Onkel Ben immer noch in der Tür, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und ich frage mich auf einmal, ob sie einander schon einmal begegnet sind. Schließlich sind sie alle, ob Onkel Ben, Amy oder Paul, in gewisser Weise Opfer. Vielleicht hat Onkel Ben bei Miss Winters’ Wohltätigkeitsverein Rat gesucht? Das wäre durchaus denkbar. Ja, das wäre nicht unmöglich, obwohl ich noch nie darauf gekommen bin.
Dann scheint Onkel Ben sich zusammenzureißen. Er grinst mich an und geht pfeifend die Treppe hinauf.
»Er scheint dich sehr zu mögen«, sagt Miss Winters. »Du hattest offenbar einen guten Tag. Und wie war die Woche?«
Meine gute Laune verfliegt schlagartig. »Sonny Rawlins ist ein Mistkerl«, sage ich und speie den Namen regelrecht aus. Ich weiß natürlich, dass ich Miss Winters nichts über Sonny Rawlins erzählen dürfte, denn er hat ja auch bei ihr Unterricht, und außerdem will ich nicht petzen, aber … »Er hat unsere Haustür mit Eiern beworfen. Hat Laub und anderes Zeug in den Briefkasten gestopft. Ich weiß, dass er es war, denn ich habe gesehen, wie er auf seinem blöden, neuen, protzigen Mountainbike weggefahren ist – letzte Woche und vor ein paar Tagen. Wenn ich ihn noch einmal erwische, dann … dann ziele ich mit einem Backstein nach ihm.«
Miss Winters runzelt die Stirn. »Keine Backsteine, Evie. Ich halte das für keine gute Idee. Oder suchst du Ärger?«
Ich lasse mich seufzend nach vorn sacken, lege mein Kinn auf das Buch und starre die Wand an. »Ich erzähle das nicht, damit Sie ihn ausschimpfen. Das können Sie mir glauben. Aber … Sie wissen ja, wie grässlich er ist. Sie verstehen, was ich meine. Und deshalb können wir darüber reden, stimmt’s? Das bleibt doch unter uns?«, frage ich, indem ich mich zu ihr umdrehe.
Miss Winters lächelt mich an. »Das bleibt unter uns, Evie«, verspricht sie. »Und ich weiß das zu würdigen.«
Ich wende mich wieder ab, kann die Wand aber nicht mehr so grollend anstarren wie zuvor, denn
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