Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Stimmen fallen ein. Aber es ist kein Lied über die Schönheit des Eises. Man kann es nicht einmal als Lied bezeichnen. Es ist eher wütendes Gebrüll. Erfüllt von gedankenlosem Trotz und der Bereitschaft zur Gewalt. Ein Lied, wie es Betrunkene grölen, die im Schein der Straßenlaternen heimwärts torkeln.
Mich erfüllt eine Wut, kalt und scharf wie Eis. Adam liegt irgendwo hinter dieser Mauer begraben. Adam und Tante Minnie und Opa Peter und Oma Florrie. Und an diesem Ort der Trauer lärmen und lachen Betrunkene. Ich spähe über die Mauer und erblicke schemenhafte Gestalten, die über den unebenen Boden stolpern.
Da steht der Drache vor mir und sagt: Nein. Wir halten uns raus.
Ich würde gern etwas einwenden, die Namen der Familie von Amy und Paul aufzählen wie einen Zauberspruch, aber der Drache bläst mir warmen, feuchten Rauch ins Gesicht, und ich wende mich ab, schleiche geduckt davon, bis ich den Schmerz nicht mehr ertrage, den diese Haltung in meinen Rippen auslöst. Und dann renne ich. Ich renne, renne, renne. Ein Schmerz löst den anderen ab, denn die Luft sticht in meiner Lunge, als hätte ich Fichtennadeln inhaliert. Ich komme stolpernd zum Stehen, beuge mich keuchend über den Zaun vor dem Weg am Kanal. Der Schmerz lähmt mein Denken.
Der Drache setzt sich auf den Handrücken, der zitternd auf dem Zaunpfahl liegt.
Miss Winters betrachtet mich, als wollte sie abwarten, ob ich doch noch etwas sage, wenn sie schweigt. Heute beiße ich nicht an den Fingern, sondern starre ihre Schultern an. Ich weiß nicht, was ihr durch den Kopf geht. Ihre Miene ist mir neu, und ich frage mich, was sie zu bedeuten hat. Ist dieser unbekannte Gesichtsausdruck ein gutes oder schlechtes Zeichen?
Dann verändert sich Miss Winters’ Miene. Sie scheint einen Beschluss gefasst zu haben, und sagt: »Du wirkst heute glücklicher, Evie.«
Ich warte eine Minute mit der Antwort, weil ich nicht genau weiß, was ich von ihrer Feststellung halten soll – nicht weiß, welche Reaktion sie erwartet. »Meine Rippen tun nicht mehr ständig weh, und ich kann schlafen – jede Nacht«, erwidere ich zögernd. »Und zwar richtig tief und fest. Früher habe ich immer nur leicht geschlafen und bin ständig aufgewacht. Ich habe im Monat eine gute Nacht gehabt und in allen anderen Nächten nur gedämmert. Und nun schlafe ich«, sage ich fast ehrfürchtig, »und das ist herrlich. Warum sollte ich also nicht glücklich sein?«
»Und die Schule?«, fragt Miss Winters, und ich weiß immer noch nicht, ob ihre Fragen wirklich so harmlos sind oder ob sie auf etwas hinauswill.
»Alles gut«, sage ich, bleibe jedoch auf der Hut. »Ich komme wieder rein. Nur nicht bei Sport. Da sitze ich rum und schaue zu und arbeite an meiner blöden Stiftrolle«, sage ich, und bei dem Gedanken daran, wie oft ich vor mich hingeträumt und mir mit der stumpfen Nadel unter den Fingernagel gestochen habe, ziehe ich die Nase kraus. »Lynne streckt mir jedes Mal die Zunge heraus, wenn sie an mir vorbeiläuft.«
»Ärgert es dich, dass sie neidisch ist?«
»Nein.«
Miss Winters seufzt. Sie hält mich für schwierig, und das mag zutreffen, aber ich wünschte, sie würde mir offen sagen, worum es geht.
»Ich wollte andeuten«, fährt Miss Winters fort, »dass du dich vielleicht ärgerst, weil Lynne dich um deine Befreiung vom Sportunterricht beneidet, anstatt zu bedenken, dass du nicht daran teilnehmen kannst … und warum du nicht teilnehmen kannst.«
»Lynne glaubt, ich hätte mir bei einem Autounfall die Rippen gebrochen. Bis auf Sie und Mrs Henderson glauben das alle in der Schule. Und Mrs Henderson weiß es nur, weil meine blöde Sozialarbeiterin darauf bestanden hat«, sage ich, und eine leichte Gereiztheit schleicht sich in meine Stimme. Die richtet sich nicht nur gegen die Sozialarbeiterin; Miss Winters weiß das doch alles, warum also meint sie, dass ich Lynne, die die Wahrheit nicht kennt, Vorwürfe machen würde?
»Findest du nicht, dass du deinen Freundinnen etwas mehr Vertrauen schenken könntest?«, fragt Miss Winters, und ich merke, wie mir das Herz sinkt. »Lynne und Phee sind jetzt seit fast vier Jahren deine besten Freundinnen.«
»Und deshalb darf ich keine Geheimnisse vor ihnen haben?«
»Du darfst natürlich Geheimnisse haben, Evie, aber findest du es gut, dass deine Freundinnen an eine Lüge glauben?«
Ich verdrehe die Augen, sacke auf dem Stuhl zusammen. »Und wennschon. Warum müssen sie alles wissen? Das geht sie nichts an. Sie wären
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