Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
nur gehemmt. Sie würden mich noch mehr bemitleiden, als sie es jetzt schon tun. Sie würden mich anschauen und nur sehen, was …« Ich schließe die Augen und versuche die Bilder zu verdrängen, die mich überfluten. »Immer, wenn sie mich sehen, würden sie an all das denken, was ich vergessen will.«
»Ja, du würdest das vielleicht so empfinden, Evie, aber …«
»Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie an mich denken?«, fauche ich.
Miss Winters’ Miene erstarrt. »Das ist etwas anderes, Evie«, sagt sie, aber ich merke, dass sie darum kämpft, ihre Stimme ruhig zu halten. »Zumal wir hier, außerhalb der Schule, auch über deine Probleme sprechen. Trotzdem sind diese Probleme nicht das, was mir zuerst durch den Kopf geht. Manchmal denke ich, wie schön es ist, eine Schülerin zu haben, die Bücher genauso liebt wie ich – oder wie sehr ich mich darauf freue, meine Lieblingsbücher mit dir zu teilen, vor allem jene, die du noch nicht kennst. Das gibt mir das Gefühl, sie selbst zum allerersten Mal zu lesen.«
Ich drehe mich zum Fenster um. Ein Rotkehlchen saust in den Feuerdorn und reißt dabei einen Zweig mit Beeren ab, dann flattert es wieder davon. »Ist es denn eine Lüge, wenn man falsche Erklärungen vorschützt, weil man die Wahrheit nicht sagen kann?«
»Und warum kannst du die Wahrheit nicht sagen?«, fragt Miss Winters. Ich scheine ein sonderbares Gesicht zu ziehen, denn sie fügt rasch hinzu: »Das soll keine Kritik sein, Evie, und ich halte dich ganz sicher nicht für eine Lügnerin. Nur solltest du vielleicht erwägen, deine besten Freundinnen in deine Probleme einzuweihen.«
»Dann würde bald die ganze Schule davon wissen.«
Miss Winters runzelt die Stirn. »Hältst du Lynne und Phee für so unzuverlässig?«
Ich schüttele den Kopf und frage mich, warum Miss Winters heute so unnachgiebig ist. »Sie sind in Ordnung. Sie sind normal drauf. Sie tratschen gern. Selbst Geheimnisse. Sie erzählen es jemandem, und danach macht es die Runde … Und das nehme ich ihnen nicht mal übel. Aber niemand will diesen Mist hören. Das wäre nur verstörend.«
»Vielleicht würde es Phee und Lynne reichen, untereinander darüber zu sprechen.«
»Sie sind normal drauf«, wiederhole ich und kann nicht verhindern, dass ich scharf und ungeduldig klinge.
»Und was soll das heißen, Evie?«
Ich verdrehe die Augen, sacke auf dem Stuhl noch tiefer. Sie müsste mir das erklären, nicht umgekehrt.
Nun ist es an Miss Winters, unruhig zu werden. Ich schweige, bis sie die Geduld verliert, die Beine seufzend andersherum übereinanderschlägt. Dann seufzt sie noch einmal und sagt: »Du hast vorhin gesagt, dass du besser schläfst, glücklicher bist, weniger Schmerzen hast. Es ist nur natürlich, dass dich all das bis jetzt sehr beschäftigt hat, aber nun, da es dir besser geht, frage ich mich, wie deine Pläne für die Zukunft aussehen, Evie.«
Ich denke immer noch darüber nach, warum sie unbedingt will, dass ich meine Geheimnisse überall herumerzähle, und lege die Stirn in Falten.
»Na schön«, sagt Miss Winters. »Das ist eine heikle Frage, ich weiß. Wir könnten auch zuerst ergründen, worin deine Ziele ganz allgemein bestehen. Was möchtest du erreichen? Kannst du dir vorstellen, was du später tun willst?«
»Meinen Sie in der Schule?«, frage ich zaghaft.
Miss Winters zuckt mit den Schultern. »In der Schule, zu Hause … Möchtest du … gern aufgefordert werden, in einer Mannschaft mitzuspielen? Oder eine Rolle in einem Stück der Theater- AG zu übernehmen? Oder zu einer bestimmten Party eingeladen werden?«
Ich winde mich, zwänge meine Füße unter den Po. »Ich will den Stoff nachholen, den ich verpasst habe«, sage ich.
»Gut, aber das betrifft nur den Unterricht. Was noch?«
Ich fummele eine Haarsträhne aus dem Pferdeschwanz und beginne, sie um einen Finger zu wickeln. Ich versuche zwar, beim Nachdenken nicht mehr auf den Haaren zu kauen, aber das hilft immer noch besser als das Herumwickeln.
»Schwer zu sagen. Manchmal reden sie noch von Sachen, die ich nicht miterlebt habe, aber immer seltener. Und ich verpasse nicht mehr so viel. Jenny will ihren Geburtstag im Schwimmbad feiern, und ich darf wieder ins Wasser, wenn es so weit ist, also … Dann ist da noch der Duke-of-Edinburgh-Wettkampf, aber der ist nicht mehr so oft Thema. Ich glaube, Lynne wird ihn bald hinschmeißen.«
»Und worauf wirst du dich nach Jennys Geburtstag freuen?«
»Weiß nicht«, gestehe ich und bin
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