Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
selbst überrascht, als mir dies bewusst wird. »Ich kann jetzt gut schlafen, weil meine Rippen nicht mehr so wehtun, aber ich habe keine Ahnung, worauf ich mich außerdem freuen soll. Ich muss mich wohl immer noch daran gewöhnen, dass jetzt alles anders ist.«
»Verständlich, dass du eine gewisse Zeit brauchst, um dich umzugewöhnen, Evie. Das waren große Herausforderungen, die kaum Platz für anderes ließen, und nun, da sie weitgehend überwunden sind, ist es nur natürlich, dass du dich etwas verloren fühlst, nicht weißt, was jetzt kommt. Aber jeder von uns braucht Ziele. Etwas, worauf man hinarbeiten kann. Ich finde, du solltest ab jetzt darüber nachdenken.«
Ein Gedanke huscht mir durch den Kopf, so flüchtig, dass ich ihn nicht greifen kann. Er scheint bedeutsam zu sein, und ich weiß, dass ich bei dem Versuch, ihn festzuhalten, die Stirn in Falten lege. Dieser Gedanke hat etwas mit dem Drachen zu tun. Und mit Leichtigkeit – einem Gefühl der Leichtigkeit. Und der Befreiung. Als hätte ich etwas in mir getragen, das aus kaputtem Glas besteht und plötzlich entfernt wurde, wie die gebrochene Rippe.
Ich wickele die Strähne von meinem Finger und kaue darauf herum.
»Es muss ja nicht sofort sein, Evie«, sagt Miss Winters als ich nicht antworte. »Aber vielleicht wäre es eine schöne Hausaufgabe für die nächsten Wochen: Denk darüber nach, was du an Gutem erreichen möchtest, nachdem du so viel Schlechtes überwunden hast. Das kann die Schule betreffen, aber du könntest auch beschließen, auf eine Jeans zu sparen, die du toll findest. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn du mir bis zum Ende des Monats ein neues Ziel nennen könntest – und mir sagst, wie du es erreichen willst.«
»Also ein Ziel und ein Plan«, sage ich versonnen, denn ich habe nicht richtig zugehört. Ich frage mich weiter, was außer der Rippe noch aus meinem Inneren entfernt wurde. Hat sich etwas Schlechtes in etwas Gutes verwandelt wie die Rippe in den Drachen? Und war es der Drache, der mich von diesem Schlechten befreit hat? Ich spucke die feuchte Haarsträhne aus und streiche sie von meiner Wange. »Kann ich machen.«
Ich habe ein Bein über die Fensterbank geschoben, da höre ich, wie hinten im Garten die Pforte quietscht.
»Pssssst!«, zischt jemand.
Ich falle rückwärts in mein Zimmer. Der Schmerz flammt in meinen Rippen auf, und ich beiße auf die Unterlippe, lehne das Fenster wieder an. Als ich die Vorhangringe über die Stange zerre, zittern meine Hände. Ich zerre und zerre … Ich habe vollkommen vergessen, dass heute Freitag ist – jener Tag in der Woche, an dem Paul und Onkel Ben regelmäßig bis zum späten Abend unterwegs sind.
Ich ducke mich unter das Fenster und reibe meine Rippen, kann hören, wie Gartenstühle knirschend über die Steinplatten gezogen werden.
»Sieh dir diesen Dreck an«, sagt Paul. »Die verfluchte Nachbarskatze hat wieder auf dem Tisch gesessen.«
»Ziemlich große Füße für eine Katze«, erwidert Onkel Ben, und ich erstarre.
Wenn ich mich nachts auf den Tisch hinablasse, sind meine Schuhe sauber, aber wenn ich nach einem Abenteuer mit dem Drachen wieder in mein Zimmer klettere, sieht die Sache anders aus.
»Ekelhaftes Biest«, sagt Paul verächtlich. »Ein Schwanz wie ein dreckiger Staubwedel.«
Morgen, denke ich, hole ich ein altes Geschirrtuch aus dem Schuppen und stecke es ein, bevor ich aufbreche, damit ich bei meiner Rückkehr die Fußabdrücke vom Tisch wischen kann.
»Vielleicht haben wir nur unsere Zeit verschwendet, Ben«, sagt Paul und lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf ihr Gespräch. »Amy wird sich nicht gerade freuen, wenn sie merkt, dass meine Hosenbeine zentimeterhoch verdreckt sind. Und was haben wir erreicht?«
»Wir werden früher oder später Erfolg haben«, antwortet Onkel Ben ungewohnt scharf. »Aber wir müssen das nicht unbedingt zu zweit tun. Du musst nicht mitkommen.«
Paul seufzt. »So war das nicht gemeint, Ben«, erwidert er leise. »Aber … Freitagnacht ist falsch. Wir sollten es an einem anderen Tag probieren.«
Sie schweigen eine Weile. »So etwas tut man … Glaubst du nicht auch, dass diese Leute sich lieber in einer stockdunklen Nacht herumtreiben?«
»Es wird immer um dreiundzwanzig Uhr dunkel«, sagt Paul gereizt. Dann seufzt er wieder. »Bewölkte Nächte?«, schlägt er vor.
»Nächte, die hundertprozentig dunkel sind. Neumondnächte.«
»Tja, angeblich treibt der Vollmond die Verrückten aus ihren Löchern.
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