Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Raureif lässt die ganze Welt erglänzen, obwohl der Mond nur eine schmale Sichel ist. Wie tiefer Schnee das Licht absorbiert und zehn Mal so stark zurückwirft, taucht der Raureif sogar die dunkelsten Schatten in ein Zwielicht, nur dass er, anders als der Schnee, alle Dinge ihrer Farben beraubt. Keine späten Feuerdornbeeren, die noch orangen aufleuchten. Die Stiefmütterchen wirken geisterhaft, ihr herrschaftliches Purpur, früher so rotweindunkel und schwer, dass man darin hätte ertrinken können, ist zu einem fahlen Fliederton verblasst. Alles ist in graue, silbrige und weiße Schatten gehüllt. Aber die ganze Welt schimmert. Unterwegs nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, dass die von der Kälte gebeugten, kaum wiederzuerkennenden Pflanzen in den Beeten diamanten glitzern. Und die kahlen Äste der Bäume glänzen metallisch wie Blech.
Die Kälte prickelt und sticht im Gesicht, dringt eisig in Hals und Brust. Seit dem Nachmittag schmerzen meine Rippen, wie immer, wenn es kälter wird und die Luft feucht ist. Ob Regen, Schnee oder Frost – die beschädigten Knochen wissen früher als jeder Wetterfrosch, was kommt.
Aber das von Raureif bedeckte Marschland ist so schön, dass ich meine Schmerzen vergesse. Der Fluss strömt dunkel und eisfrei zwischen den Ufern. Das orangefarbene Glühen einer fernen Straßenlaterne suppt wie Gift in die Nacht.
Als wir auf die Felder abbiegen, ist die ganze Welt glänzend hell. Alles Feste hat sich in Kristall verwandelt. Sogar der matschige Pfad und das schwarze, spätherbstliche Moderlaub wirken wie verzaubert. Ich hocke mich hin, um die filigranen, phantastischen Formen von Kristallen bedeckter Farnwedel zu betrachten.
Die letzten, noch aufrechten Gräser gleichen in die Erde gepflanzten Schwertklingen. Ich streiche über eine messerscharfe Kante. Das Eis brennt auf der Fingerspitze, und dann erscheint mitten im Silbergrau plötzlich der kleine, goldene Kreis eines winzigen, abperlenden Wassertropfens.
Der Drache und ich sprechen kein Wort, während wir die mit einem eisigen Pelz bedeckten Brombeerblätter betrachten, die vor dornigen Ranken hängen. Ich zertrete kleine Spiegel aus Eis, zerbreche sie in gefährlich spitze Scherben.
Wir waren während vieler Nächte unterwegs, aber diese Nacht gehört dem Drachen. Oder er gehört ihr. Der Zauber von Eis und Kristall. Von Glanz und Fremdheit. Als wäre die Zeit eingefroren worden, damit die unter der Alltagswelt aus Matsch und trägem Wasser verborgene Magie zum Vorschein kommt, sich im kalten Licht der Sterne enthüllt.
Der Drache erstarrt, spannt die Muskeln an. Ich entdecke es mit leichter Verspätung – etwas Geisterhaftes fliegt über die Felder auf uns zu. Der Drache lässt es nicht aus den Augen, bewegt den Kopf so gleitend und beherrscht, als wäre er noch ein halb fertig geschnitzter Knochen. Sein Schwanz schlägt hin und her, und ich rechne damit, dass er gleich aufspringt, um das näher kommende Geschöpf zu packen.
Diese Beute jage ich nicht , erklärt mir der Drache.
Ich erkenne das Tier erst, als es zum Sturzflug ansetzt, die gefiederten Beine lang ausgestreckt, die Klauen gespreizt. Die Eule schlägt eine Maus, fliegt wieder auf. Der auf meiner Handfläche sitzende Drache ist so berauscht von dieser Kraft, dieser Herrscherin der sonderbaren, weiten Welt aus Eis, dass er schnurrt. Und ich bin wie berauscht, weil ich eine Macht in der Hand halte, die alles bietet, was man sich nur wünschen kann: eine Macht, mit der ich nicht durch Blut, sondern durch Knochen verbunden bin.
Meine Augen schmerzen vor Kälte, aber ich versuche, nicht zu blinzeln, während ich den Blick schweifen lasse, um mir das Bild des von Raureif bedeckten Marschlandes und das fast beängstigend herrliche Gefühl einzuprägen, nie wieder hilflos zu sein.
Ich werde dafür sorgen , sagt der Drache. Danach schweigen wir.
In dieser Nacht nehmen wir den langen Heimweg, und die Fußspuren, die ich auf dem frostmürben Rasen des Golfplatzes hinterlasse, gleichen Abschürfungen. Schließlich biegen wir auf den schwärzlich glitzernden Fußweg vor der Friedhofsmauer ein.
Da wird plötzlich laut und heiser gelacht. Ich renne in den Schatten der Steinmauer. Ich spüre das gefrorene Moos unter den Fingern, als ich im Schutz der Dunkelheit nach einem Halt taste. Noch mehr Gelächter. Rufe. Der Strahl einer Taschenlampe sticht in das Astwerk der über mir aufragenden Eibe, tanzt davon.
Irgendjemand stimmt ein Lied auf dem Friedhof an. Andere
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