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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexia Casale
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würde mich gern tief bücken, aber das geht nicht, weil die Enden der Rippen gegen das verheilende Narbengewebe stoßen.
    Der Schmerz hat jetzt eine andere Qualität: stechend und sauber. Aber darunter pocht der dumpfe, schmutzige Schmerz beschädigter Knochen – als würden sich die Enden der Rippen aneinanderreiben. Der von den Rippen ausgehende Schmerz zuckt stoßweise durch meinen Arm und bis in die Finger. Meine Hals- und Rückenmuskeln verkrampfen sich, als ich versuche, den Schmerz einzudämmen, und das macht es noch schlimmer, steigert das wunde Gefühl in den müden Muskeln. Mehrere, übereinanderliegende Arten von Schmerz. Und meine Finger brennen wie verätzt. Ich hebe die Hand, weil ich befürchte, dass sie sich durch den Schmerz aufgelöst haben könnte.
    Durch den Vorhang meiner Haare sehe ich Lynne und Phee, eng umschlungen. Neben ihnen steht Jennys Mutter, bleich im Gesicht, einen Arm um Phees bebende Schultern gelegt. Lynnes Maskara ist verlaufen. Glitzernder Schnodder rinnt auf ihre Oberlippe. Sie leckt ihn weg, verschmiert den Rest mit der Hand auf ihrem Gesicht.
    Hinter ihnen stehen fast alle Schulkameraden aus meinem Jahrgang und starren mich an.
    Jennys Mutter schluchzt. Schluchzt und entschuldigt sich. Aber die meiste Zeit betont sie, nicht geahnt zu haben, »dass Sonny Rawlins so brutal sein könnte«, mich in das Becken zu stoßen, dass er »immer ein bisschen bockig gewirkt hat«, aber sie hätte nie gedacht, dass er bei seiner Schikane so weit gehen würde, »ein Mädchen körperlich zu attackieren«, sie habe ja nicht ahnen können, dass es besser gewesen wäre, Jenny davon abzubringen, ihn einzuladen …
    Ich bin fast dankbar für die regelmäßigen Unterbrechungen durch Ärzte und Krankenschwestern. Man hat mich in einen Krankenhausmantel gesteckt und in Decken gewickelt. Dann hat man mich geröntgt, meine Brust abgehört, Blutdruck und Temperatur gemessen und mir eine Million Fragen danach gestellt, was mir wehtat und wo und wie sehr. Jennys Mum ringt immer noch ihre Hände – wringt sie regelrecht aus – und klagt, sie wisse nicht, was sie Amy sagen solle.
    Eigentlich müsste ich froh sein, dass sie in dieser Verfassung ist, denn so hat sie nicht gemerkt, wie ich den Fragen der Krankenschwestern und Ärzte nach dem Grund für meine kaputten Rippen ausgewichen bin. Paul und ich sind darin übereingekommen, dass Therapeuten Bescheid wissen müssen, Ärzte und Krankenschwestern aber nicht, denn sie brauchen nur zu wissen, was zu behandeln ist. Ihre Neugier bezüglich meines beschädigten Brustkastens zu befriedigen, wäre überflüssig, weil das hier sowieso keine Rolle spielt.
    Ich tippe mit dem Zeigefinger, auf dem der Sauerstoffmesser befestigt ist, auf die Matratze und seufze tief.
    »Möchtest du etwas essen, Evie, Liebes? Oder noch eine heiße Schokolade?«
    Die erste Schokolade war grau und körnig und wegen des Zuckers fast sirupartig zäh. Angeblich hilft Zucker bei der Überwindung eines Schocks, die heiße Flüssigkeit dabei, die Körpertemperatur wieder anzuheben. Aber alle waren der Ansicht, dass meine Lunge frei und meine Rippen nicht weiter verletzt seien und dass auch keine Unterkühlung vorliege.
    Eine Frau, die in einem anderen Notaufnahmebett liegt, stimmt ein unablässiges Stöhnen an. Meine Finger zucken, denn ich würde ihr am liebsten sagen, sie solle die Klappe halten. So stöhnt niemand, der wirklich leidet. Nein, ihr Gestöhne ist künstlich – eine Kette dick aufgetragener Klischees.
    »Oje«, sagt Jennys Mutter und übt sich weiter fleißig im Händeringen. »Oh, oh, oh – soll ich eine Krankenschwester holen? Was meinst du?«
    Ich schließe die Augen und atme in einem regelmäßigen Rhythmus. Vielleicht ist Jenny auch ein Adoptivkind, denn Frauen, die Kinder geboren haben, müssten doch eigentlich wissen, was wahre Schmerzen sind, und Jennys Mutter ahnt offenbar nicht, dass die stöhnende Frau nur Aufmerksamkeit erregen will.
    Ich lausche den Geräuschen auf der Station, bin froh, dass erst Mittag ist. Als ich vor einem Jahr mit dem Fahrrad stürzte, bestanden Amy und Paul darauf, ins Krankenhaus zu fahren, um meinen dick angeschwollenen Knöchel untersuchen zu lassen. Damals war ich zum ersten Mal in der Notaufnahme, und da es recht spät war, war diese voller brüllender, schreiender und schluchzender Betrunkener. Dazu die vielen brüllenden, schreienden, schluchzenden und gleichfalls betrunkenen Verwandten und Freunde. Wie gut, dass jetzt nur

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