Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
eine Simulantin stöhnt.
Eine Krankenschwester erscheint und kümmert sich um die stöhnende Frau. Ein paar Tränen, ein leiser Schluckauf. Dann eilt jemand schnellen Schrittes durch die Station – so klingen Amys Schritte, wenn sie gestresst ist.
»Gleich hier. Wir haben die Vorhänge zugezogen, damit …«, sagt jemand.
Die restlichen Worte gehen im Rauschen unter, mit dem die Vorhänge aufgerissen werden.
»Evie«, sagt Amy.
Einfach nur »Evie«. In der kurzen Zeit, die sie braucht, um vor das Bett zu treten, mustert sie mich von oben bis unten. Sie legt eine Hand auf meine Wange und streicht mit der anderen über meinen Kopf, während sie mich stürmisch auf die Stirn küsst. »Hast du Schmerzmittel bekommen?«
»Kodein. Ich wollte eigentlich …«
Amy gibt mir noch einen Kuss auf die Stirn und dreht sich dann zur Krankenschwester um. »Sie müssen meiner Tochter Oramorph verschreiben. Für zu Hause. Eine 100-Milliliter-Ampulle müsste reichen.«
Die Krankenschwester zieht eine Miene, die Mitgefühl und Bedauern ausdrücken soll. »Tja, Morphine verabreichen wir Jugendlichen eigentlich nur bei gravierenden Beschwerden. Sie müssen wissen …«
»Meine Tochter erholt sich von einer Operation. Ihr fehlt ein zehn Zentimeter langes Stück Rippe im Brustkorb, die Narbe ist frisch, und ihre Knochen sind noch nicht verheilt. Und Sie behaupten, dass sie kein anständiges Schmerzmittel braucht, nachdem sie in ein Schwimmbecken gestoßen und von einem Bademeister geborgen wurde und sich danach die Lunge aus dem Leib gehustet hat, weil sie jede Menge Wasser geschluckt hatte? Ich will so rasch wie möglich den Arzt sprechen. In der Zwischenzeit können Sie ihm ausrichten, dass meine Tochter ein schmerzstillendes Mittel braucht, das ihre Schmerzen tatsächlich stillt .«
Die Krankenschwester setzt eine andere Miene auf (die kein bisschen bedauernd ist) und stampft davon.
»Oh, Amy«, sagt Jennys Mutter und führt ihre frisch geübte Kunst des Händeringens vor. »Oh, Amy, es tut mir ja so leid. Ich hätte nie gedacht …«
»Danke, dass du Evie ins Krankenhaus begleitet hast, Janet«, unterbricht Amy sie. »Aber würdest du bitte still sein, damit ich schauen kann, wie es meiner Tochter geht?«
Der Mund von Jennys Mutter klappt auf wie der eines Nussknackers. Ich kann mir vorstellen, wie sie sich fühlt. Sie murmelt etwas Unverständliches und geht. Amy sitzt schon rechts auf dem Bett, da ist Jennys Mutter noch nicht ganz verschwunden. Sie massiert mit einer Hand meine verspannte linke Schulter und streicht mit der anderen über mein Haar.
»Was sagen sie zu dem vielen Wasser, das du geschluckt hast?«, fragt Amy.
»Sie machen viel Wirbel, weil sie nicht verstehen, was mit meinen Rippen los ist, aber es geht mir gut. Ich bin nur …« Ich verstumme. Ich mag nicht daran denken, wie sehr ich gedemütigt worden bin und was die Geburtstagsgäste jetzt reden, und ich mag erst recht nicht daran denken, was am Montag in der Schule erzählt werden wird.
Amy hebt behutsam mein Gesicht und schaut mir in die Augen. Dann hört sie auf, über mein Haar zu streichen, weil sie in der Handtasche kramt.
»Ich habe deinen Drachen mitgebracht«, sagt sie.
Da kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, und der Schmerz in meiner Brust wird schwer und fest.
»Oh, Evie, und ich dachte, du …«
»Gib«, japse ich und muss beim Sprechen so sehr gegen den Schmerz ankämpfen, dass ich tonlos klinge. Ich greife nach der kleinen Glasflasche, noch bevor Amy sie ganz aus der Handtasche geholt hat. Ich lasse zu, dass sie sich an meinen Rücken schmiegt und ihre Arme von hinten um mich legt, und weil es Amy ist, muss ich sie nicht daran erinnern, dass ihr Arm nicht zu tief liegen darf, weil er sonst gegen meine Rippe drückt.
Ich fummele den Drachen aus der Glasflasche und presse ihn gegen mein Brustbein. Der Schmerz ist so herrlich sauber, scharf und frisch wie Tee mit Zitrone. Ich kämpfe keuchend gegen die Tränen an – atme flach und japsend, um den Schmerz in den Rippen und den auf der Brust zu lindern, ein Schmerz, der sich anfühlt wie eine Mischung aus Entsetzen und Wut und Verletztheit.
»Blaue Tablette«, presse ich hervor, weil ich weiß, dass Amy für den Notfall immer eine kleine Dose mit Schmerzmittel und ein paar meiner blauen Tabletten dabeihat.
»Wir müssen erst den Arzt fragen, Evie.«
Ein hoher, spitzer Ton dringt unbeabsichtigt tief aus meiner Kehle. So klingt wahre Qual, denke ich, während mein
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