Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
war auch angespannt, aber wenn er sich Sorgen macht, wird er zum Glück immer still und starr, und so warf niemand sein Müsli quer durch die Küche. Ich fand es allerdings sonderbar, dass Paul sich gleich nach dem Betreten des Friedhofs entspannte, noch bevor wir Onkel Ben sahen. Während Amy Adam von meiner Bestnote in Geschichte erzählt, überlege ich, ob es daran lag, dass Paul gleich Onkel Bens Auto auf dem Parkplatz gesehen hatte und so davon ausging, dass alles in Ordnung sei. Aber das bezweifele ich, denn als Amy ihn auf das Auto hinwies, war Paul weiter angespannt und holte das Handy heraus, als wollte er nach Nachrichten schauen.
Ich behalte die beiden abwechselnd im Auge, bemerke aber nur, dass Paul den Blick Onkel Bens auffängt und den Kopf lächelnd zur Seite neigt. Onkel Ben erwidert das Lächeln und fährt dann fort, die Ballerina-Rose auf Tante Minnies Grab zu beschneiden. Das ist alles.
Ich finde das rätselhaft. Ja, natürlich steht Onkel Ben heute neben sich – das gilt für alle drei, und das verstehe ich –, aber ich weiß nicht, was heute anders sein sollte. Oder warum Amy nicht auch findet, dass er anders ist. Denn das tut sie nicht. Das merke ich ihr an. Sie verhält sich in diesem Jahr genauso wie in allen Jahren zuvor.
Nachdem Amy Adam Bericht erstattet hat, widmen wir uns dem Grab von Oma Florrie und Opa Peter. Auch hier gibt es erstaunlich wenig zu tun. Während ich ein paar verdorrte Gräser von der Grabplatte picke, fallen mir nur sonderbare, kleine und leuchtend blaue Punkte im Bogen des P und im waagerechten Strich des T auf. Ich kratze sie ab und sehe zu, wie sie auf andere im Matsch liegende grüne, blaue und rote Punkte hinabsegeln.
Als ich genauer hinschaue, fällt mir auf, dass das Gras im Umkreis von zwanzig Schritten bunt gesprenkelt ist. Und die Erde ist so feucht, als hätte es geregnet, und zwar nur hier. Ich hocke mich hin, um ein Grasbüschel zu betrachten, das aussieht, als hätte hier jemand nach dem Anspitzen seiner Buntstifte die roten, gelben und blauen Reste ausgekippt. Als ich die Farbstückchen berühre, lösen sie sich auf meinen Fingerspitzen auf. Irgendjemand scheint ganze Hände voll winziger Konfettis auf die Gräber gestreut zu haben, das dann ein anderer wieder wegspülen wollte, weil es sich nicht gehört, auf einem Friedhof zwischen den Toten zu feiern. Hier darf nicht gefeiert werden, denn hier soll es würdevoll zugehen. Und natürlich erwartet niemand, dass irgendjemand den Tod feiern will.
Aber falls ich Fionas Grab jemals besuchen sollte, werde ich genau das tun: feiern. Ich kann nicht glauben, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der so empfindet. Ich schaue mich mit neuerlichem Interesse um, frage mich, in welchem Grab ein Mensch liegt, der so gehasst wird, wie ich Fiona hasse, und wie es kommt, dass er so gehasst wird.
Amy, Paul und Onkel Ben besuchen ihre Toten, weil diese ihnen viel bedeuten, und sie pflegen die Gräber. Mir geht es anders, aber ich glaube nicht, dass ich ein Unmensch bin, nur weil ich auf Fionas Grab am liebsten tanzen, feiern und Müll verstreuen würde. Ich glaube nicht, dass ich mit dieser Empfindung allein stehe – gut möglich, dass selbst Amy so empfände, wenn sie in meiner Haut stecken würde, aber sie steckt nun einmal nicht darin. Dieser Todestag beweist also, wie mitfühlend, anständig und nett Amy, Paul und Onkel Ben sind, aber er beweist eben auch, dass ich vollkommen anders gestrickt bin als sie; dass meine Gefühle für Fiona unveränderbar sind, egal, wie liebevoll und herzlich Amy, Paul und Onkel Ben mit mir umgehen; dass meine Gefühle tatsächlich so kalt, hart und hässlich sind, wie Fionas Eltern mir stets unterstellt haben. Es geht mir so gut jetzt, ich bin so glücklich und trotzdem kann ich nichts daran ändern, dass ich in mir Ähnlichkeiten mit Fiona entdecke. Amy und Paul hätten etwas Besseres verdient.
Als Amy zärtlich über das Wort »Mutter« auf Oma Florries Grabstein streicht, wende ich mich ab – und erinnere mich plötzlich an die Raureifnacht, als irgendwelche Idioten auf dem Friedhof sangen und grölten. Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, weil sie im Allerheiligsten von Amy, Paul und Onkel Ben so ausgelassen tobten … Und dann wird mir klar, dass diese Typen vielleicht gar nicht vorhatten, den Friedhof zu entweihen oder zu schänden. Vielleicht haben sie nur gefeiert – an einem ganz bestimmten Grab gefeiert, in dem eine ganz bestimmte Person begraben liegt.
Weitere Kostenlose Bücher