Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Schrank und schleiche dann ins Bad. Ich helfe dem Drachen beim Waschen und suche im Anschluss das Paracetamol. Da wird leise an der Tür geklopft.
»Geht es dir gut, Evie, mein Liebes?«
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, flüstere ich, als ich die Tür öffne. »Ich habe nur Kopfschmerzen. Ich finde das Paracetamol nicht.«
Amy streicht mir die Haare aus den Augen und befühlt meine Stirn. »Du bist ja eiskalt, Evie. Geht es dir wirklich gut? Oder ist die Heizung in deinem Zimmer kaputt?«
Ich blinzele sie an. »Ich habe den Kopf kurz aus dem Fenster gesteckt«, sage ich. »Weil ich dachte, das würde die Kopfschmerzen lindern.«
»Ach, Evie«, seufzt Amy, reicht mir das Paracetamol und bugsiert mich dann wieder in mein Zimmer. »Du holst dir noch eine Lungenentzündung, und das wäre gar nicht gut.«
Während ich die Tabletten schlucke, zupft Amy an meinem Bettzeug.
»Soll die Stereoanlage ausbleiben, mein Liebes? Wegen der Kopfschmerzen?«
»Hm? Oh. Nein. Ich würde jetzt gern etwas hören«, sage ich.
Amy lächelt, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und schaltet den Kassettenrecorder ein.
Sie schließt die Tür behutsam hinter sich, und ich schaue zu, wie der Streifen Licht immer schmaler wird und schließlich erlischt. Ich rolle mich auf die andere Seite, hole den Drachen aus der Tasche und setze ihn auf den Nachttisch. Während ich versuche, mich möglichst bequem hinzulegen, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie sich der Drache niederlässt und den Schwanz ordentlich über seine Füße legt. Seine Haltung verrät, dass er mir gleich eine Lektion erteilen wird, und mein Seufzen geht in ein Gähnen über.
Du musst deine Schuhe putzen , befiehlt der Drache.
»Das kann warten«, murmele ich, wobei ich ein zweites Gähnen unterdrücke, und schließe die Augen.
Nein , sagt der Drache.
Ich wende mein Gesicht ab, sinke auf das Kopfkissen.
Nein , wiederholt der Drache. Das kann nicht warten. Nicht heute Nacht. In keiner Nacht. Du darfst nie vergessen, deine Schuhe zu putzen, außer bei Frost. Es darf keine Ausnahmen geben. Das muss so selbstverständlich geschehen wie das Atmen.
Seine Besserwisserei reizt mich zum Widerspruch. Unsere nächtlichen Abenteuer sind kein bisschen selbstverständlich. Wie sollten sie auch?
Du darfst bestimmte Dinge nie vergessen. Du musst sie sogar im Schlaf tun können.
Ich schnaube leise, denn ich fühle mich zu warm und wohlig und zu schläfrig, um meinen Unwillen laut zu äußern.
Nein , befiehlt der Drache. Du weißt genau, warum ich bei dir bin. Also los.
Ich richte mich seufzend im Bett auf und reibe müde meine Augen. »Bist du etwa bei mir, um mir zu sagen, dass ich meine Schuhe sogar im Halbschlaf putzen muss?«, frage ich genervt.
Ja , sagt der Drache. Ja, auch das gehört dazu.
Amy legt einen Arm um meine Schultern und zieht mich dicht zu sich heran, während ich den Grabstein anstarre. Ich kann spüren, dass sie zittert. Paul hat von der anderen Seite ihre Taille umfasst. Sie hat schon Blumen auf das Grab gelegt und Vogelkot und verdorrtes Gras entfernt, in diesem Jahr erstaunlich wenig. Ich habe den Blick bemerkt, den Onkel Ben ihr zugeworfen hat, bevor sie sich an die Arbeit machte, und nehme an, dass er etwas damit zu tun hatte.
Paul und ich haben Unkraut gejätet und die Stiefmütterchen runtergeschnitten, und Amy berichtet Adam wie in jedem Jahr alles, was sich seit unserem letzten Besuch zugetragen hat.
Onkel Ben steht ein paar Schritte hinter uns, auf halbem Weg zwischen Adams Grab und dem von Tante Minnie. Ich habe auch dieses mit in Ordnung gebracht, weil Adams Grabstelle schon aufgeräumt war. Ich mache mir Sorgen um Onkel Ben. Er übernachtet am Vorabend des Todestages meist bei uns, aber gestern Abend ging er nach Hause, sobald Amy im Bett war. Er ist auch nicht zum Frühstück gekommen, sondern hat sich hier, auf dem Friedhof, mit uns getroffen. Er wirkte ganz normal, begrüßte Amy lächelnd und mit einer liebevollen Umarmung und erzählte ihr von nervigen Problemen bei der Arbeit. Doch er putzt ständig seine Brille. Amy hat das nicht bemerkt – was an diesem Tag nicht weiter verwundert –, aber sie weiß genauso gut wie ich, dass er das nur tut, wenn er flunkert. Ich habe keine Ahnung, was er vertuschen will. Er sieht nicht verweint aus. Und er hat auch keine Fahne.
Vormittags trieb uns Amy mit ihren Sorgen beinahe in den Wahnsinn, und sie beruhigte sich erst, als sie Onkel Ben sah und merkte, dass er wohlauf ist. Paul
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