Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
verdrängen und das Gespräch voranzutreiben, zu verhindern, dass Miss Winters den Begriff noch einmal benutzt.
»Ja, aber warum haben sie das behauptet, Evie?«
Für einen Augenblick stehe ich wieder in meinem alten Zimmer mit dem gemusterten Glas in meiner Hand. Ich sehe, wie es in Scherben geht, als ich es auf der Nachttischkante zerschlage. Ich sehe den Gesichtsausdruck von Fionas Vater vor mir, die in Entsetzen umschlagende Überraschung. Es hat mich immer belastet, dass ich nicht mehr weiß, was folgte. Alles ist vage und verschwommen. Da gibt es zu viele Lücken, vor allem an den wichtigen Stellen. Ich frage mich ständig, wie ich damals für so viel Blut und das Entsetzen von Fionas Vater sorgen konnte.
Ich weiß nur noch, dass ich wie berauscht war, erfüllt von einem herrlichen Machtgefühl.
Und da kann ich den Gedankenfetzen erhaschen, der neulich, als Miss Winters über Ziele sprach, am Rand meines Bewusstseins vorbeihuschte. Ich werde Miss Winters nicht die ganze Geschichte erzählen – niemals –, aber der Grund besteht nicht mehr darin, dass ich verbergen will, was in mir verschlossen ist, dieses Biest mit Klauen, Zähnen und Gift, zäh und klebrig wie Öl. Denn es ist wie durch ein Wunder verschwunden. Der finstere Ort, an dem ich es vor der Welt versteckt hatte, ist jetzt taghell. Was immer dort war, ist fort: Der Drache hat es entfernt, er bewacht und versteckt es für mich, und er hat mich zugleich von der Furcht erlöst, eines Tages unachtsam zu sein und es entwischen zu lassen, von der Furcht, dass Amy sich dann entsetzt abwenden würde. Von mir abwenden würde.
»Vielleicht haben Fionas Eltern befürchtet, ich könnte am Ende genauso verrückt sein wie ihre Tochter«, sage ich. »Sie haben Geschrei immer gehasst. Alles musste still geschehen. Als wäre es dann nicht wirklich.«
Paul grinst mich an, als ich in die Küche trotte, mich auf einen Stuhl sacken lasse und herzhaft gähne. »Ich an deiner Stelle würde gar nicht erst aufwachen«, sagt er, während er die Kästchen eines Kreuzworträtsels ausfüllt. »Denn bei dem Seifenopern-Marathon, den du mit Phee und Lynne planst, wirst du sofort wieder einschlafen.«
»Gehe nicht hin. Habe Lynne schon gesimst«, murmele ich gähnend, recke mich ungelenk und zucke dann zusammen.
Paul legt die Stirn in Falten. »Tut dir etwas weh? Müssen wir uns Sorgen machen, mein Liebes?«, fragt er, woraufhin Amy, die gerade abwäscht, herumfährt und mich von Kopf bis Fuß mustert.
»Nein«, sage ich. »Bin nur etwas verspannt. Habe im Schlaf wohl komisch gelegen.«
»Aber es sieht dir nicht ähnlich, deinen Freundinnen abzusagen, mein Liebes. Ist wirklich alles in Ordnung? Wir könnten rasch beim Arzt vorbeischauen … Wenn dir etwas wehtut, sollten wir beim Arzt vorbeischauen, vor allem nach dem Vorfall im Schwimmbad und …«
»Alles bestens«, fauche ich, seufze und sehe sie entschuldigend an. Ich bemühe mich, den Rücken durchzudrücken, als ich nach der Teekanne greife, aber Paul legt die Zeitung weg und beeilt sich, mir einzuschenken.
»Echt«, sage ich und versuche, es leichthin klingen zu lassen. »Ich bin einfach nur müde und … Ich habe heute keine Lust auf fünf Stunden Soaps.« Ich angele nach einer Haarsträhne und kaue darauf herum. »Ich versuche, mich für das zu begeistern, was Phee und Lynne interessiert, wirklich, aber ich bin heute nicht in der richtigen Stimmung.« Ich sehe die beiden bittend an.
Paul lächelt, aber Amy seufzt nur. »Gut. Wenn du wirklich meinst, dass alles in Ordnung ist«, sagt sie. »Das ist die Hauptsache. Du musst nichts tun, wozu du keine Lust hast.«
»Nur dieses eine Mal«, sage ich. »Nächstes Mal gehe ich hin.«
»Na schön. Wenn Evie nicht gebracht werden muss, fahre ich jetzt zu deiner Mutter«, sagt Amy, zieht mir versonnen die Haarsträhne aus dem Mund und steckt sie hinter mein Ohr. »Ich habe versprochen, beim Beschneiden der Japonica zu helfen, und da Regen vorhergesagt wurde, sollten wir zeitig damit beginnen. Kommst du mit dem Mittagessen zurecht?«
Paul verdreht die Augen. »Sie hält mich für vollkommen unfähig«, klagt er der Zimmerdecke. »Jeder weiß, dass ich bessere Omeletts mache als du, also lass das Gerede.«
Amy beugt sich lächelnd zu ihm herab und gibt ihm einen Kuss. »Evie wird auf dich aufpassen und dich daran hindern, das Haus in Schutt und Asche zu legen«, sagt sie.
Als die Haustür ins Schloss fällt, dreht Paul sich zu mir um und zieht eine
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