Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
wir zwei Mal zum Schrank im oberen Flur gehen müssen. Wir wollen sie gerade anschauen, da holt Amy tief Luft und schlägt vor, auch alle anderen Sachen zu holen.
Bald liegen überall im Wohnzimmer aufgeschlagene Alben, lose Fotos, Kinderzeichnungen und Hausaufgabenhefte, Urkunden und Pfadfinderabzeichen herum … Die Stunden vergehen, und wir hocken immer noch auf dem Fußboden inmitten des Chaos. Wir haben den Rücken gegen das Sofa gelehnt, und ich sitze zwischen Amy und Paul. Ein Album liegt offen auf meinem Schoß, und Paul erzählt mir von Adams allererstem Sportwettkampf. Ich betrachte den kleinen Jungen mit den braunen Locken, der weit vor allen anderen wie ein Hase über den Rasen flitzt.
Das nächste Foto zeigt Adam, Paul und Onkel Ben vor dem gewaltigsten Kürbis, den ich je gesehen habe. Sie scheinen darüber zu diskutieren, wie er zu gestalten ist. Adams Brust ist voller Kürbisstückchen. Onkel Ben gestikuliert wild, und Paul lacht.
Auf dem Foto darunter sitzt Onkel Ben auf dem Fußboden, Adam zwischen den Beinen, der seine Knie als Armlehnen benutzt. Sie brüten über einem Brettspiel, die dunkelhaarigen Köpfe dicht beisammen. Vor ihnen sitzt eine hübsche Frau mit rotbraunen Haaren – sie hat sich umgedreht, um in die Kamera zu lächeln. Das ist also Tante Minnie.
Auf der nächsten Seite entdecke ich die Fotos der Feier von Adams fünftem Geburtstag. Er steht mit einem Grinsen, das seine Zahnlücken zeigt, hinter einem riesigen Schokokuchen. Ich bremse Paul, der umblättern will, denn ich betrachte noch das Foto.
»Wieso ein Mädchen?«, frage ich mit einem Blick auf Amy.
Sie runzelt die Stirn, und ich wende mich an Paul.
»Warum habt ihr keinen Jungen adoptiert?«
»Das war keine gezielte Entscheidung«, sagt Paul, lehnt den Kopf gegen das Sofa und streicht mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Wir wussten nicht mal genau, ob wir ein Baby oder ein etwas älteres Kind adoptieren oder vielleicht selbst noch eines bekommen wollten. Wir hatten gerade begonnen, uns Gedanken darüber zu machen und mit dem Jugendamt darüber zu sprechen, als wir dir im Flur begegnet sind, und damit war die Sache entschieden. Wir waren noch auf halbem Weg zum Auto, da hatten wir schon beschlossen, dich zu adoptieren. Nachdem wir dich genauer kennengelernt hatten, haben wir dich natürlich noch viel mehr geliebt, aber aus irgendeinem Grund haben wir dich sofort in unser Herz geschlossen. Du bist damals durch den Flur gelaufen, mit einer fest entschlossenen Miene und von Kopf bis Fuß mit blauer Farbe beschmiert. Weißt du noch? Du hast mich gefragt, wieso du den Weg nicht streichen darfst – der Regen würde die Farbe zwar wieder abwaschen, aber bis dahin wäre alles hübsch … Keine Ahnung, wieso du es dir in den Kopf gesetzt hattest, ausgerechnet den Plattenweg zu streichen.«
Ich senke den Blick stirnrunzelnd auf das Geburtstagsfoto.
»Was denkst du?«, fragt Paul und stößt mich behutsam mit dem Ellbogen an.
»Na ja … Ich habe nur zwei Tage nach Adam Geburtstag, aber es hätte doch sicher Jungen im selben Alter mit ähnlichen Geburtstagen gegeben. Vielleicht nicht mit zwei, sondern mit vier oder fünf Tagen Abstand, aber …«
Ein Ausdruck des Entsetzens überfliegt Amys Gesicht. »Du bist keine Lückenbüßerin , Evie, mein Liebes«, flüstert sie. »Wir haben dich nie als solche gesehen. Wir hatten keine genauen Vorstellungen, als wir dir begegnet sind. Erst als wir dir begegnet sind und es schien, als würdest du uns auch mögen … Alle haben darüber gestaunt, dass du gleich am ersten Tag so viel Zutrauen zu uns gefasst hast. Ich weiß noch, dass deine Betreuerin sich beeindruckt zeigte, weil wir sofort einen Draht zueinander hatten. Andernfalls, sagte sie, hätte sie einem Adoptionswunsch, der auf einer zufälligen Begegnung beruht, niemals zugestimmt. Unser Wunsch, ein Kind zu adoptieren, war damals noch nicht einmal amtlich, geschweige denn bewilligt … Aber alles schien sich zu fügen. Du siehst also, dass wir dich schon geliebt haben, bevor wir wussten, wann du Geburtstag hast – oder wie alt du warst. Als wir das erfuhren, fanden wir das natürlich ganz wunderbar. Das war wie ein Zeichen, so, als wäre es vom Schicksal gefügt worden. Wir hatten plötzlich das Gefühl, als wäre es uns bestimmt gewesen, Adam nur bis zu einem bestimmten Alter aufwachsen zu sehen, und danach dich großzuziehen. Die Tatsache, dass du gleich nach Adam Geburtstag hast, bedeutet für uns, dass wir
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