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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexia Casale
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während unseres gesamten Lebens Eltern sein werden, auch wenn sich dieses Leben auf zwei Kinder verteilt. Aber deshalb bist du noch lange keine Lückenbüßerin …«
    Ich streiche mit einem Finger über die lächelnden Gesichter auf dem Foto.
    »Du glaubst doch nicht, dass wir dich so sehen – dich je so gesehen haben –, nicht wahr, Evie?«
    Ich schiebe eine Hand in die von Paul, die andere in die von Amy.
    »Glaubt ihr, sie hätten mich auch gemocht?«, frage ich und betrachte das Foto auf der gegenüberliegenden Seite: Amys Eltern, Tante Minnie und Adam strahlen in die Kamera.
    Ich habe Anteil an allem, was diesen vier Menschen am meisten bedeutete: Amy, Paul und Onkel Ben … Und nun bin ich endlich auch in alles eingeweiht und weiß über die Vergangenheit Bescheid, so wie die vier durch Amy und deren jährlichen Bericht über die Gegenwart Bescheid wissen. Ich hoffe, sie finden das in Ordnung, und ich würde mir wünschen, dass diese vier Menschen mich wenigstens halb so gern kennengelernt hätten, wie ich sie kennengelernt hätte – obwohl Amy und Paul mich dann wohl nie getroffen und ins Herz geschlossen hätten. Ich hoffe dennoch, dass sie es ein bisschen, ein klitzekleines bisschen bedauern, mich nicht kennengelernt zu haben.
    Die Pferde tauchen aus dem Nebel auf. Mir stockt der Atem, und ich frage mich kurz, ob es Geister sind. Doch aus ihren Nüstern quillt Dampf, der sich mit dem Nebel vermischt.    
    Ich stehe mucksmäuschenstill da.
    Mitten zwischen ihnen. Ich betrachte das graue Pferd am genauesten: Sein hin- und herfliegender Schweif scheint sich im Nebel aufzulösen. Der Wind frischt auf und flaut wieder ab, scheint den Nebel zu gewaltigen Flutwellen aufzutürmen – so hoch, dass ich ihre Kämme nur erkennen kann, wenn ich den Kopf weit in den Nacken lege –, die über mir zusammenschlagen, durch mich hindurchziehen. Der Nebel wogt dicht über dem Erdboden und wirbelt dann auf Strudel zu, die so echt wirken, dass ich mir einbilde, in die Erde hinabgerissen zu werden, wenn ich den Strömungen trotze, die mich umwirbeln.
    Donner zerfetzt den Nebel. Die Pferde reißen den Kopf hoch.
    Blitze.
    Die Welt glüht kurz in Blau und Grün. Das Pferd, das mir am nächsten ist, wiehert ängstlich.
    Dann fällt prasselnder Regen. Ich bin innerhalb kürzester Zeit klitschnass.
    Die Pferde trotten im strömenden Regen davon, und die Erde wird zu klebrigem Matsch, in dem meine Turnschuhe stecken bleiben, als ich ihnen folge.
    Blitze. In der schwarz-weißen Welt, die sich vor mir auftut, sobald ich oben auf der Steigung stehe, ragen die kahlen Äste und Stämme der Bäume auf. Ein Pferd sucht schnaubend das Weite. Als ich den Regen aus den Augen zwinkere, merke ich, dass die Herde auch unter den Bäumen Schutz gesucht hat. Einige stehen aneinandergeschmiegt da. Andere traben hin und her, preschen ins freie Gelände und kehren dann, wie vom Regen zurückgepeitscht, schnaubend und ruckartig um.
    Manchmal ist eine Berührung ebenso wichtig wie das stille Beobachten , erklärt der Drache. Nur keine Angst, denn deine Träume werden nicht zerbröseln und wie Sand durch deine Finger rinnen, wenn du nach ihnen greifst. Diese Angst würde zu einer lebenslangen, unerfüllten Sehnsucht führen. Aber die Sehnsucht ist nur eine Phase, in der man von der Erfüllung seiner Träume träumt, und wenn man die Sehnsucht hegt und pflegt, werden die Träume immer stärker. Wie Nebel, der sich legt und zu Eis wird. Du musst also abwarten, bevor du nach deinen Träumen greifst. Du musst lange genug warten – aber nicht zu lange.
    Ich gehe langsam näher. Langsam, langsam, ganz langsam. Ein Pferd trottet davon, doch der Schimmel betrachtet mich reglos. Er bläst mir heißen, feuchten Atem ins Gesicht und wirkt erleichtert, als ich nicht erschrocken zurückweiche.
    Ich hebe langsam, langsam, ganz langsam eine Hand. Seine Schnauze ist samtig und bedeckt von feinen Stoppelhärchen. Er reibt seinen Kopf an meiner Brust und pustet mir dann einen Schwall heißen, weißen Atems ins Gesicht. Ich muss lachen, und er weicht schnaubend zurück, nur um seine Schnauze gleich wieder gegen meinen Mantel zu drücken. Ich streichele seinen nassen Hals, der sich metallisch glatt und muskulös anfühlt.
    Er wittert Futter , erklärt mir der Drache.
    »Möchtest du ein Pfefferminz?«, frage ich und greife in die Tasche. Ich habe den Arm noch nicht ausgestreckt, da schlabbert das Pferd die Bonbons schon von meiner Handfläche. Ich gebe ihm

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