Die Nacht Hat Viele Augen -1-
einer Weile hatte er zu seiner eigenen Verblüffung das Gefühl entwickelt, den kleinen Kerl beschützen zu müssen. Er verdrosch jeden, der sich mit ihm anlegte, klaute Kleidung und Schuhe für ihn, wenn er etwas Neues brauchte, und sorgte dafür, dass er etwas zu essen bekam, wenn Mitch und DeAnne zu stoned waren, um ihn zu versorgen. Es waren diese kleinen Dinge, aber sie begannen eine Eigendynamik zu entwickeln, und bevor er sich versah, gehörte Jesse ganz zu ihm. Er hatte vollständig die Verantwortung für ihn übernommen. Niemand sonst im Haus war nüchtern genug, um sich einen Dreck um das Kind zu scheren.
Seine Bindung an Jesse war nicht offiziell. Die Liaison zwischen DeAnne Mackey und Mitch Cahill war eine wilde Ehe gewesen, die niemals legalisiert worden war. DeAnne bestand darauf, dass Jesse Mitchs Sohn war, und sie hatte so lange genörgelt, bis Mitch Jesses Nachnamen in Cahill ändern ließ. Seth erinnerte sich noch allzu genau an diese Auseinandersetzung. Aber ich werde meinen Namen nicht diesem anderen diebischen, klugscheißenden Rotzbengel von dir geben, also frag mich gar nicht erst.
Ha! Als ob er ihn jemals gewollt hätte.
Nach ihrem Tod hatte Seth sich den Behörden entzogen, die eigentlich für sein Wohlergehen zuständig gewesen wären, aber er war trotzdem in der Gegend geblieben, um ein Auge auf Jesse zu haben und ihn vor Mitch zu beschützen.
Es war nicht einfach gewesen. Jesse war schwer zu beschützen. Er liebte völlig unkritisch. Er verzieh Freunden, nachdem sie ihm das Messer in den Rücken gerammt hatten, er lieh Dieben und Drogenabhängigen Geld, er verliebte sich und wurde öfter niedergetrampelt, als Seth mitzählen konnte. Und er verschenkte sein Herz mit einem unbekümmerten Mut an die falschen Leute, der seinen Bruder immer wieder verblüffte.
Er hätte ihre Verbindung niemals mit dem Wort Liebe beschrieben, denn in jenen Tagen existierte diese Vokabel in seinem Wortschatz nicht. Er fand es mehr als fürchterlich, auf diesen kleinen nutzlosen Dummkopf aufzupassen. Aber in jenen Augenblicken, in denen Seth nun über solche Dinge nachdachte – was glücklicherweise selten vorkam und nur, wenn er völlig besoffen war –, wusste er, warum er dortgeblieben war. Er brauchte genau wie Jesse wenigstens einen Menschen, den er lieben konnte. Es war eine harte, kontrollierende Art von Liebe, aber es war alles, was er geben konnte. Alles, was er je gegeben hatte.
Jesse hätte einfach niemals zur Polizei gehen dürfen. Er war viel zu vertrauensselig, zu weichherzig. Er hätte als Pfleger im Kinderkrankenhaus anfangen sollen oder als Vorschullehrer. Seth hatte sich so sehr bemüht, ihn vor der Welt zu beschützen, aber die Welt war groß und tückisch und voller Verrat, und Jesse hatte es sich in den Kopf gesetzt, sie vor den bösen Jungs zu retten.
Wenn Jesse jetzt bei ihm wäre, würde er ihm sagen, er solle aufhören, sich einen runterzuholen und in seinem Selbstmitleid zu baden. Und wenn er ihn dort sehen könnte, wie er im Dunkeln vor dem Haus parkte wie ein liebeskranker Teenager, würde er sich vor Lachen ausschütten. Er konnte ihn vor seinem geistigen Auge sehen, wie er mit dem Finger auf ihn zeigte. Hah! Jetzt bist du dran, Bruder, und das wird verdammt noch mal auch Zeit. Mal sehen, wie du aus der Nummer jetzt wieder rauskommst, du Spinner.
Seths Augen brannten, und er rieb sie sich mit den Fingerknöcheln, während er hinauf zum Badezimmerfenster starrte. Er fragte sich, ob sie wieder weinte. Er hatte es sich verkniffen, diesen Teil der Show anzusehen. Die gesamten zweiundzwanzig Minuten und sechsundzwanzig Sekunden.
Vielleicht badete sie. Er stellte sich vor, wie sie ausgestreckt in der Wanne lag und ihre üppigen Kurven glänzten und schimmerten, während sie sich einseifte. Innerhalb von einhundertzehn Sekunden konnte er bei ihr sein.
Konnte ihr beim Baden helfen.
Seine Hand schwebte über dem Türgriff. Er packte ihn, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten und schmerzten, doch dann ließ er langsam wieder los. Die Jungs vom Sondereinsatztrupp oben im Lagezentrum seines Kopfs waren bewaffnet und gefährlich, und man sollte sich besser nicht mit ihnen anlegen. Dort oben herrschte im Moment Kriegsrecht. Diese moralisierenden Bastarde.
Er ließ sich noch tiefer in den Sitz rutschen. Sein Kopf schmerzte, und sein Magen knurrte. Er hätte sich etwas zu essen mitnehmen sollen. Vor dem Treffen war er einfach zu angespannt gewesen, dann zu geil, während Raine bei
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