Die Nacht Hat Viele Augen -1-
streicheln und an ihr knabbern, bis sie sich insgeheim fragte, wann er endlich einen Schritt weiter gehen würde. Und sobald er die ersten Anzeichen dieser rastlosen Energie in ihr spürte, war das sein Stichwort.
Dann würde er sie auf das Bett oder die Couch oder den Teppich legen, was immer auch am nächsten war, und sie mit seinem Mund verwöhnen, bis sie vergessen hätte, warum sie wütend auf ihn war. Bis sie sich wand, feucht und weit offen. Ihn anflehte. Köstlich. Und so einfach. Als wenn man einem Baby den Lolli wegnahm. Er hatte die Mittel, er hatte die Macht, aber als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, geschah etwas Seltsames. Er hielt einfach … inne.
Ihm blieb keine Wahl. Sein gesunder Menschenverstand hatte ganz überraschend die Macht an sich gerissen. Plötzlich hatte eine sonst verborgene Seite von ihm das Kommando übernommen, wie eine Sondereinsatztruppe. Fremdartige Gedanken formten sich in seinem Kopf und verwirrten ihn. Nur weil er ihre Schlösser öffnen konnte, bedeutete das doch noch lange nicht, dass er es auch tun sollte. Nach dem heutigen Tag war es wohl das Mindeste, dass er ihr Haus bewachte und dafür sorgte, dass sie wenigstens eine Nacht in Sicherheit verbrachte. Er hatte sogar Hemmungen, den Empfänger einzuschalten und sie über sein Laptop zu beobachten, so wie er es zuvor wochenlang getan hatte. Heute fühlte sich das alles einfach nur falsch an. Sie hatte ihm alles gegeben, was sie nur geben konnte, und er hatte alles genommen. Und was hatte er ihr zurückgegeben …? Oh, Scheiße. Er fühlte sich schlecht, es tat ihm leid. Das reichte nun wirklich.
Gott, war er dämlich. Es war ein völlig sinnloser Tribut, den er da zollte, und sie würde ihn nie zu schätzen wissen. Nie würde sie erfahren, welche Überwindung es ihn kostete, nicht seine kleinen Tricks anzuwenden, sondern einfach dort in der Dunkelheit zu sitzen, hilflos und untätig.
Es war bizarr. Er war noch nie in seinem Leben besonders ritterlich gewesen. Das hatte immer besser zu Jesse gepasst.
Selbst ein so kurzer Gedanke an seinen jüngeren Bruder war ein schwerer Fehler. Heute war er nicht in der Lage, unerwünschte Gedanken beiseitezuschieben. Sie rasten durch seinen Kopf und machten ihn völlig verrückt.
Eine Erinnerung jagte die andere. Selbst ganz kurze Bruchstücke zogen ihm den Magen zusammen. Jesses schmutzig blondes Haar, das steil in die Luft stand, als käme er gerade aus dem Bett. Seine grünen Augen, die wie die Scheinwerfer eines Autos leuchteten. Seine überragende Intelligenz, seine flotten Sprüche. Seine ganz besondere Art, immer die ganze Welt zu umarmen, auch wenn sie ihm gerade einen Arschtritt verpasst hatte.
Seths Herz war schon damals von einem dicken Panzer umgeben gewesen, als seine Mutter DeAnne wieder mit einem ihrer Exfreunde, Mitch Cahill, zusammengekommen war und den Typ in ihre Wohnung hatte einziehen lassen. Dann hatte DeAnne diesen Fehler noch übertroffen, indem sie auf die großartige Idee gekommen war, Seths kleinen fünf Jahre alten Halbbruder zu sich zu holen, der mit seiner Mutter in San Diego lebte – schließlich war ja nun eine Vaterfigur vorhanden. Seth hatte den rotznasigen, ständig plappernden Kleinen nur zweimal gesehen, seit er geboren worden war. Und zweimal hatte ihm auch vollkommen gereicht.
Seth hatte Mitch vom ersten Augenblick an gehasst und das glotzende, dürre Kind, das dem elf Jahre alten Bruder ständig am Rockzipfel hing und ihm völlig auf die Nerven ging, mürrisch abgelehnt. Aber Jesse war wie eine Fliege, die immer wieder auf seiner Nase landete. Man konnte ihn einfach nicht loswerden. Seth erinnerte sich noch an den entsetzlichen Schreck, der ihn an jenem Tag durchfahren hatte, als er begriff, dass Jesse ihn liebte. Nicht weil er so liebenswert war, sondern weil er das eben nicht war. Er war durch und durch gemein zu dem unbedarften kleinen Idioten gewesen. Nicht, weil er es verdient hatte, geliebt zu werden, sondern weil das Gegenteil der Fall war. Seth war zu jedem unausstehlich.
Nein, Jesse hatte ihn geliebt, weil Jesse verzweifelt jemanden gesucht hatte, den er lieben konnte. So war er einfach gewesen. Er hatte auch DeAnne geliebt. Er hatte sogar Mitch geliebt, seinen brutalen, wertlosen Abschaum von einem Vater. Und dass jemand es hinbekam, Mitch zu lieben, war wirklich ein verdammtes Wunder.
Für Jesse war es genauso wichtig, zu lieben wie zu atmen, und Seth war ihm dabei einfach zufällig in die Schusslinie geraten. Nach
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