Die Nacht im Stau (German Edition)
für eine Vorstellung! Sie sagt kein Wort, um den Zauber des Moments nicht zu zerstören.
Pünktlich um acht Uhr schalte t sie das Radio ein. Mahlers 1. Symphonie wird angekündigt, gespielt von der Deutschen Jungen Philharmonie unter der Leitung von Sir Roger Norrington, eine Live-Übertragung aus dem Festspielhaus Baden-Baden.
Sonja wi rft Sven einen Blick von der Seite zu. Er nickt ihr zu, wendet dann jedoch seinen Blick ab. Sie glaubt in seinem Gesicht Anspannung und einen Hauch von Traurigkeit zu erkennen, Trauer, weil er nicht vor Ort sein kann. Vielleicht ist es aber auch nur die Vorfreude auf das Kommende. Das Konzert bedeutet ihm zweifellos ungemein viel.
Das Stück begi nnt ganz leise, mit einem lang gezogenen Ton. Spannung wird aufgebaut. In diese gespannte Stimmung hinein erklingen überraschend Fanfaren. Sofort tauchen in Sonjas Kopf Bilder auf: Tiere im Wald. Eine Jagdszene. Ob der Komponist diese Wirkung bei seinen Zuhörern beabsichtigt hat? Sieht nur sie diese Bilder oder geht das anderen auch so? Sie hätte Sven gerne gefragt, doch der hält die Augen geschlossen und ist ganz in die Musik versunken. Fröhliche Klänge folgen, die an einen Tanz erinnern.
Kaum hat Sonja sich an eine Musikstelle gewöhnt, erfolgt auch schon eine Veränderung. Auf extrem leise, zärtliche Klänge folgen laute, forsche Töne. In ihrem Kopf entsteht eine Reihe weiterer Bilder: Junge Menschen, einen Reigen tanzend, eine Waldlichtung, ein rufender Kuckuck.
Sie hat es Sven gleich getan, hält die Augen geschlossen und gi bt sich ganz der Musik hin. Einzig und allein das leise Rauschen des Gebläses stört, aber das müssen sie ertragen, sonst wird es im Auto eiskalt.
Jetzt hört sich die Musik schleppend an. Und gleich darauf ein neuer Reigen. Die Musik schwillt an. Ein lauter Paukenschlag. Sie dreht die Lautstärke ein ganz klein wenig zurück, Sven reagiert zum Glück nicht. Ein weiterer Paukenschlag. Der 1. Satz ist beendet.
Wie gerne würde Sonja jetzt auf die Pausentaste drücken, mit Sven sprechen, ihm ihre Empfindungen mitteilen und ihn fragen, ob das, was ihr an Bildern in den Kopf kam, so vom Komponisten gedacht war, oder ob sich das alles nur in ihrem Gehirn abspielt. Doch es gibt keine Pausentaste. Sie lauschen einer Live-Übertragung und die kann man nicht stoppen.
Man hört, wie die Menschen im Konzertsaal hüsteln. Sonja wirft Sven einen kurzen Blick zu, doch ihr Beifahrer ist weiterhin zutiefst in die Musik versunken.
S chon beginnt der 2. Satz, leise und zart. Wie kann man nur so zarte Töne erschaffen? Sonjas Brust zieht sich vor Ergriffenheit zusammen. Eine Legion von Ameisen krabbelt über ihre Arme, den Körper entlang. Wahnsinn! Diese gefühlvolle Musik passt unglaublich gut zu der kalten, klaren Nacht draußen. So etwas hat sie noch nie erlebt! Oder doch? Da gibt es eine Situation, bei der sie schon einmal so aufgewühlt war. Damals, als der Geigenlehrer der Familie zur Beerdigung ihres Vaters in der großen Kirche den 2. Satz aus Bruchs Violinkonzert spielte. Aber das ist eine Ewigkeit her und eigentlich rein gefühlsmäßig unvergleichlich.
W ieder eine kurze Pause. Diesem wunderschönen Part hätte sie noch ewig lauschen können, leider ist er viel zu schnell zu Ende.
Der 3. Satz folgt. Dieser Teil reißt Sonja sofort aus ihren traurigen Gedanken, denn er ist voll ansteckender Fröhlichkeit. Sie sieht junge Mädchen auf einer Wiese tanzen, barfuß, mit Bändern im Haar und leichten Kleidchen bekleidet, zu denen alsbald junge Burschen stoßen.
Mein Gott, denkt Sonja, meine Phantasie geht mit mir durch. Ob Sven wohl die gleichen Bilder in seinem Kopf sieht?
Ei n kurzer 4. Satz folgt, oder ist das noch ein Teil des 3. Satzes? Das neue Thema ist nicht mehr so übermütig wie bisher, er klingt eher nachdenklich, nach innen gerichtet.
Sonja platzt fast vor Ungeduld. Sie will Sven so viel fragen. All diese Eindrücke! Hoffentlich erinnert sie sich nachher noch daran.
In der kurzen Pause z wischen dem 4. und dem 5. Satz erschreckt sie fast, als Sven leise fragt: „Gefällt es dir?“
„Es ist e ine wunderbare Musik“. Sie wagt kaum zu sprechen.
„Jetzt kommt das Finale“, flüstert er. „Es ist grandios!“
Für einen kurzen Moment legt er seine Hand auf die ihre. Sie ist warm und weich, eine beinahe zärtliche Geste. Gänsehaut jagt über Sonjas Körper. Wahrscheinlich meint er diese Berührung einfach nur als Dank an sie, weil er dieses Konzert nun doch hören kann. Mehr bedeutet es
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