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Die Nacht in Issy

Die Nacht in Issy

Titel: Die Nacht in Issy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Borell
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wollen?«
    »Nein!«
    »Wir sprechen uns morgen wieder.«
    Er stand auf und rief den Polizisten.
    »Nehmen Sie ihn mit hinunter«, verlangte er, »aber bitte in Einzelhaft.«
    »In Einzelhaft, Herr Inspektor«, wiederholte der Polizist und wollte mir wieder die Fessel anlegen.
    »Nicht nötig«, sagte Lamin, »er läuft Ihnen nicht davon.«
    »Aber es ist Vorschrift, Herr Inspektor«, antwortete der Polizist und fesselte mich.
    Lamin schaute mich an und zuckte mit den Schultern.
    Ich wurde in eine Zelle gebracht, die im Parterre lag. Es war Nummer sieben. Damals hatte ich Nummer elf gehabt.

11

    Ich lag in der Dunkelheit auf meiner Pritsche und starrte an die Decke. Vier Meter über mir kam das Licht der Lampen im Hof durch das kleine Gitterfenster und zeichnete bizarre Muster an die Wand.
    Ich erinnerte mich an die erste Nacht meiner Haft vor neun Jahren. Damals hatte ich mir überlegt, ob ich mich aufhängen sollte, ich war so verzweifelt gewesen, wie nie in meinem Leben. Diesmal war ich sehr ruhig. Es war irgend etwas Unabänderliches geschehen, gegen das man sich nicht wehren konnte. Vielleicht kam es daher, daß ich mich schon seit Jahren mit dem Gedanken abgefunden hatte, daß mein Leben verpfuscht war. Und nun, wo ich Germaine kennengelernt hatte, erschien mir mein Leben doch nicht so verpfuscht; es hatte plötzlich einen Sinn bekommen. Ich hatte die Möglichkeit, ihr zu helfen!
    Sie war jung, sie hatte das Leben noch vor sich. Was sie getan hatte, war nicht sie selber gewesen — es war für sie eine Notwendigkeit. Sie war eine gequälte Kreatur, die sich mit Gewalt befreit hatte, nachdem alles andere nicht möglich gewesen war. Ich war gerade zur rechten Zeit gekommen, um ihr zu helfen. Sie konnte nun mit ihrem Leben von neuem beginnen, und sie konnte ihren Vater, an dem sie sehr hing, vor der Schande bewahren. Und ich gab ihr dazu die Möglichkeit; das war es, was mich ruhig machte.
    Ich weiß nicht, wann ich endlich eingeschlafen bin; aber als ich morgens um sechs Uhr geweckt wurde, fühlte ich mich frisch und ausgeschlafen.
    Man stellte mir das Waschwasser vor die Tür, zusammen mit einem kleinen Handtuch und einem winzigen Stückchen Seife.
    Ich wusch mich, und dann kam das Frühstück: ein Napf dünner Malzkaffee und eine Scheibe Brot.
    Ich aß in Ruhe, stellte den Napf neben die Tür und wartete. Ich hätte gern geraucht, aber ich hatte nichts. Ich hörte an den dünnen Glockenschlägen, wie die Zeit langsam verging. Ich hatte das merkwürdige Gefühl als ginge mich das alles gar nichts mehr an; ich lebte außerhalb von mir und konnte mir selber gleichsam zuschauen wie einem Fremden.
    Es mußte kurz nach neun Uhr sein, als meine Zellentür aufgesperrt wurde. Ich dachte, man würde mich nun wieder zu einem Verhör holen; aber es war der Anstaltsgeistliche, der hereinkam. Ich erkannte ihn sofort; es war derselbe, den ich am Freitag abend an der Seine getroffen hatte.
    »Guten Morgen!« grüßte er. »Kann ich etwas für Sie tun?«
    »Ja«, sagte ich, »sie könnten Monsieur Marcel Meunier davon verständigen, daß ich hier bin.«
    »Den Rechtsanwalt Meunier?«
    »Ja. Er kennt mich, weil er mich schon einmal verteidigt hat.«
    »Ist gut«, nickte er, »ich werde das veranlassen. Und sonst?«
    »Haben Sie sich über mich erkundigt?« wollte ich wissen.
    »Nein, aber man sagte mir, weshalb Sie hier sind.«
    Wir standen uns gegenüber und schauten uns an.
    »So«, sagte ich, »man hat Sie unterrichtet. Sie wissen, daß ich meinen Bruder erschossen habe?«
    »Ja.«
    »Vielleicht, Herr Pfarrer, tut man Kain Unrecht?«
    Er legte den Kopf ein wenig schräg.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Vielleicht«, erklärte ich, »war Abel ein Duckmäuser. Er war vielleicht ein Lump, ein ausgekochter Halunke, der es nur verstand, sich das Mäntelchen der Redlichkeit umzuhängen. Nach außen hin war er fromm, in Wirklichkeit aber ein Wüstling, ein Schieber von Format, ein asoziales Element — wie man heute so treffend sagt. Der einzige, der ihn kannte, war Kain. Und da er wußte, daß schon damals die menschliche Gesellschaft nach dem Schein urteilte, nach Geld und Augenverdrehen — deshalb erschlug er ihn. — Vielleicht war Kain ein redlicher Mensch, zu redlich für seine Umwelt — und vielleicht ist Kain der erste Justizirrtum.«
    Er schaute mich mit großen, erstaunten Augen an.
    »Das ist ja schrecklich«, murmelte er, »entsetzlich, wie Sie sich das zurechtgelegt haben. Wie muß es in Ihrer Seele aussehen! Wie kommen

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