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Die Nacht in Issy

Die Nacht in Issy

Titel: Die Nacht in Issy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Borell
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Sie nur auf solche furchtbaren Gedanken?«
    »Durch meine Erfahrungen«, sagte ich.
    »Und nun zweifeln Sie an Gott?« fragte er.
    »Nein, an Gott nicht; aber die Urteile auf dieser Welt werden nicht von Gott gesprochen, sondern von den Menschen. Ich zweifle an den Menschen.«
    »Die sind jedoch guten Willens, das Rechte zu tun.«
    »Mag sein, aber sie befolgen nicht das Wort: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!«
    »Haben Sie das denn befolgt?« fragte er.
    »Nein, diesmal nicht. Aber das erstemal — war es anders.«
    Er musterte mich eingehend.
    »Ich glaube —«, sagte er zögernd, »haben wir uns nicht schon einmal unterhalten?«
    »Ganz richtig, am Freitag abend.«
    Er legte die Hand über die Augen. Eine Weile war es ganz still in der Zelle, nur die Glocke auf dem Hof schlug halb zehn. Er nahm die Hand von den Augen und schaute mich traurig an.
    »Ich fürchte, ich werde Ihnen nicht viel Hilfe bringen können.«
    »Ich brauche auch keine, Herr Pfarrer. Man ist doch immer allein, wenn es sich um Dinge von Gewicht handelt.«
    Er streckte mir die Hand hin, und ich schlug ein.
    »Ich würde es wünschen«, sagte er, »daß Ihre Richter menschlich sind.«
    Ich lächelte ein wenig ironisch.
    »Das werden Sie bestimmt sein, Herr Pfarrer. In meinen Augen ist allein schon die Tatsache, daß ein Mensch Richter oder Staatsanwalt wird, ein Zeichen menschlicher Schwäche. Woher nehmen diese Leute ihr Selbstbewußtsein? Woher glauben sie, gegen ein Monatsgehalt Recht sprechen zu können? Woher beziehen sie den Mut, ihre eigenen Fehler zu übersehen?«
    Er schüttelte nur leicht den Kopf und zog seine Hand zurück.
    »Wenn Sie mich brauchen sollten, ich werde immer gern zu Ihnen kommen. — Wollen Sie etwas zu lesen?«
    »Ja«, bat ich, »bringen Sie mir bitte die Gerichtsakten aus dem Mordprozeß gegen Kain.«
    Er ging schweigend hinaus. Ich machte mir später Vorwürfe, denn ich hatte ihn nicht kränken wollen. Er wurde dafür bezahlt, daß er mit den Häftlingen sprach. Warum gab es keine Verkünder Gottes, die einen Beruf hatten und das, was sie von Gott wußten, unentgeltlich weitertrugen? Waren die wahrhaft Gläubigen, von Gott Erfüllten, mit dem Mittelalter ausgestorben? —
    Ich hatte geglaubt, an diesem Vormittag nochmals verhört zu werden, aber das war ein Irrtum. Erst nach dem Mittagessen - es gab Bohnensuppe mit kleinen Fleischstücken — wurde ich von einem Polizisten abgeholt und zu Lamin gebracht. Auch diesmal wurde ich gefesselt durch das Gebäude der Préfectur geführt.
    Lamin ließ mir sofort die Handschellen abnehmen und forderte mich wieder auf, Platz zu nehmen. Und dann bot er mir wieder eine Zigarette an. Daß ich nichts zu rauchen hatte, war mir bisher als die härteste Strafe erschienen.
    »Ich habe ein paar sehr ernste Worte mit Ihnen zu reden, Monsieur Bouchard«, begann er.
    »Das kann ich mir denken«, sagte ich gut aufgelegt; ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als ihn irgend etwas von einer ernsten oder gedrückten Stimmung merken zu lassen.
    »Ist Ihnen bekannt«, fragte er und schaute mich eindringlich an, »daß wir die Todesstrafe wieder eingeführt haben?«
    »Ja«, antwortete ich, »wir unterhielten uns im Zuchthaus darüber. Ich bedauere das sehr.«
    »Es war ein Parlamentsbeschluß.«
    »Ich halte trotzdem nichts davon, weil der Tod keine Strafe ist.«
    »Na hören Sie«, rief er erstaunt, »Ihre Ansichten — es könnte sein, daß Sie damit mehr zu tun haben, als Ihnen lieb sein dürfte. Auf vorsätzlichen Mord steht die Todesstrafe!«
    »Ich weiß — und finde es trotzdem lächerlich.«
    »Lächerlich?«
    »Ja. — Wieso ist das denn eine Strafe? Wofür werden denn all die Menschen bestraft, die jeden Tag sterben, durch einen Unfall, durch einen kaputten Blinddarm oder sonst etwas? Und weshalb sind die Soldaten, die den Tod erleiden, Helden? Der Tod, Inspektor Lamin, ist eine sehr natürliche Sache. Aber eine Strafe — nein, das ist er nicht.«
    »Sie haben merkwürdige Ansichten«, er lächelte schmal, »was würden Sie denn tun, wenn Sie strafen müßten?«
    »Ich würde wirklich strafen. Ich würde jeden Verbrecher seine Tat sühnen lassen durch Arbeit. Er müßte mit seiner Arbeit das getane Unrecht wieder gutmachen.«
    »Na schön, wie Sie meinen. — Aber ich möchte nun doch noch wissen, woher Sie die Pistole hatten?«
    Ich war ziemlich überrascht, da ich nicht erwartet hatte, daß er nochmals damit anfangen würde. Während ich mir die Antwort

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