Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
würden, deshalb nicht in die Sonne gehen zu können.«
»Das ist nicht der einzige Preis.« Plötzlich erstarrte Rossokow, und er deutete auf die dunkle Masse des Gebäudes, das den Treffpunkt darstellte. Mickey hörte das schwache Dröhnen eines Motors und sah, wie ein dunkler Lieferwagen auf das Gebäude zurumpelte. Ihr weißes Halstuch war alles, was auf diese Entfernung von Ardeth zu sehen war. Der Lieferwagen hielt zwischen ihnen und der wartenden Frau an. Einen Augenblick lang stand der Wagen unbewegt da, dann hörten sie, wie der Motor aufheulte.
Der Wagen wendete und fuhr dieselbe Strecke zurück, die er gekommen war, nur diesmal wesentlich schneller. Ardeth war verschwunden.
Mickey griff nach dem Zündschlüssel, um den Motor anzulassen, aber Rossokow legte ihm die Hand auf den Arm. »Nein. Noch nicht.«
»Dann verlieren wir sie.«
»Nein. Wir brauchen sie nicht zu sehen, um ihnen folgen zu können, und um diese Uhrzeit würde man uns auf den Straßen sofort entdecken.«
»Wir brauchen sie nicht zu sehen? Wie sollen wir sie denn dann finden?«
»Ein Vorteil meines Zustands. Ich kann sie überall finden, wohin sie auch geht.« Mickey sah von der Seite, wie der Mann lächelte. »Blut ruft nach Blut, wie man so schön sagt.«
»Hat dieser ›Zustand‹ auch einen Namen?«
»In der Vergangenheit nannte man diejenigen, die daran litten, Vampire«, erwiderte Rossokow, holte den Filzhut hervor und stülpte ihn sich über sein graues Haar. »Sie können den Motor jetzt anlassen.«
»Und wie nennt man sie heutzutage?«, fragte Mickey, während er anfing, den Wagen im Rückwärtsgang unter der Unterführung herauszulavieren.
»Genauso, würde ich meinen.«
Mickey sah nach rechts hinüber und erwartete, den Mann über seinen eigenen Witz lächeln zu sehen. Aber Rossokows Mund war unbewegt, und wenn seine Augen verrieten, dass er sich amüsierte, so war das hinter dem blinden, starren Blick seiner Sonnenbrille verborgen.
29
»Die bringen die Frau jetzt rein«, berichtete Elder. Lisa Takara nickte und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee. Alle tranken sie heute Kaffee, selbst Parkinson, die normalerweise nur koffeinfreien trank. Man hatte sie auf ihre Weisung hin aus den Betten gezerrt. Sie selbst war von Rookes Stimme am Telefon unsanft geweckt worden . . . »Aufstehen und fertig machen. Wir bringen sie in einer Stunde her.«
Sie brauchten natürlich keine Stunde Vorlauf. Das Labor funktionierte jetzt seit beinahe zwei Monaten. Zwei Monate, in denen sie nichts anderes zu tun gehabt hatten, als Geräte zu überprüfen und noch einmal zu überprüfen, alte Bücher voll abergläubischer Geschichten zu lesen und zu versuchen, nicht zu viel über einander zu erfahren. Selbst der Umzug vom ersten anonymen Standort zu diesem ebenso anonymen hatte nur eine geringfügige Störung bedeutet. Sie hatten hier – offensichtlich ein Wohnhaus – auch nicht mehr Freiheit als vorher in dem umgebauten Lagerhaus.
Die Gespräche an den endlos erscheinenden, langweiligen Tagen beschränkten sich darauf, wer was mit wem studiert hatte, sowie auf die neuesten Theorien in ihren verwandten Wissensgebieten. Niemand erwähnte seine Familie oder das Leben außerhalb der Grenzen des Labors, die sie nicht überschreiten durften. Niemand sprach über die »Bedingungen« ihrer Verträge und darüber, welche Kombination aus Geld, Erpressung und Zwang sie dorthin gebracht hatte.
Lisa hatte sich ihre eigene Theorie zurechtgelegt. Martinez, der Neurologe, war wahrscheinlich wegen des Geldes da, obwohl es sie wunderte, dass er damit rechnete, lange genug zu leben, um es in Empfang nehmen zu können. Elder, der alternde Bakteriologe, kämpfte gegen eine schwere Alkoholabhängigkeit an – in seinem Fall lag entweder Erpressung vor, oder er hatte keine besseren Angebote. Parkinsons verkniffenes Gesicht und ihre müden Augen überzeugten Lisa, dass es bei ihr Drohungen gewesen waren, die sie in das Netz gezogen hatten. Einmal hatte sie gesehen, wie die andere Frau das Foto eines kleinen Jungen in ihrem Zimmer versteckt hatte. Hanick, der Hämatologe, saß fast die ganze Zeit in ihrem Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher und sah sich die Sportmeldungen an, und Lisa vermutete, dass er Spielschulden hatte.
Im Falle Goodmans, des Teamführers, waren die Bindungen nicht stark genug gewesen. Nach drei Wochen war er entflohen – am Ende eines Seils, das um seinen Hals geschlungen war. Lisa wollte darüber lieber keine Spekulationen
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