Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
bot. Tatsächlich würde sie sogar ohne die wenigen Geräte klettern müssen, die sie besaß – ohne Partner mit Seilen zu klettern war technisch komplizierter, als nur mit seinen Händen und Füßen zu klettern. Aber zu ihrer Überraschung hatte sie keine Angst. Sie bückte sich, um die Schuhe zu wechseln.
Etwas bewegte sich in den Fichten hinter ihr.
Einen verwirrenden Augenblick lang dachte sie, es sei Rossokow, dachte, er sei doch gekommen, um ihr zuzusehen, aber dann wurde ihr klar, dass ihr Bewusstsein ihn schon vor langer Zeit wahrgenommen hätte, während ihre Ohren ihn ohne Zweifel überhaupt nicht gehört hätten. Sie drehte sich um und sah, wie der Lichtkegel einer Taschenlampe sich auf sie zubewegte, hörte das Knistern von vertrocknendem Gras unter sterblichen Füßen.
Ardeth beobachtete das tanzende Licht einen Augenblick lang, mehr neugierig als beunruhigt. Wer mochte da durch den Wald wandern? Ein Parkwächter vielleicht, der sie irgendwie gesehen hatte und jetzt kam, um ihr die Kletterpartie auszureden? Ein Tourist, der sich verlaufen hatte? Noch jemand, der vorhatte, den Tunnel Mountain im Mondlicht zu besteigen?
Wer auch immer es war, sie war nicht an ihm interessiert. Sie bückte sich, um ihre Habseligkeiten aufzusammeln und schickte sich an, an der Felswand entlang weiterzugehen. Dann knackte ein Ast, und sie hörte, wie jemand ganz deutlich »Scheiße!« sagte. Sie hielt inne. An der Stimme war etwas . . . Plötzlich huschte der Lichtkegel über ihr Gesicht, und sie zuckte zurück, ihre Hand fuhr in die Höhe, um ihre Augen zu schützen.
»Ardeth? Sind Sie das?«
Er trat aus dem Dunkel der Fichten hinaus auf den kurzen, mit Steinen übersäten Hang, der zum Aufstieg führte. Sie stand auf, einen Augenblick lang gefangen zwischen Erleichterung, Ärger und einer Anwandlung wilder, gefährlicher Freude.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, entschuldigte sich Mark und schaltete die Helmlampe ab, die er zu seiner Orientierung benutzt hatte.
»Was machen Sie hier?«
»Ich dachte, bei dem Mond«, damit blickte er kurz zu der silbernen Scheibe über ihnen auf, »würden Sie bestimmt herkommen. Ich habe eine Münze geworfen, um mich für eine Route zu entscheiden.«
»Warum?«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass es gefährlich ist, allein zu klettern, und das habe ich auch so gemeint.«
Einen Augenblick lang war sie zu überrascht, um etwas zu sagen. In der eingetretenen Stille nahm er seinen Rucksack ab und öffnete den Verschluss. »Das schaffe ich schon«, sagte sie schließlich ein wenig verlegen.
»Natürlich werden Sie das. Haben Sie irgendwelche Ausrüstung mitgebracht?«
»Bloß meine Kletterschuhe.«
»Kein Problem. Ich habe ein Seil, einen zusätzlichen Klettergurt und alles, was man an Gerätschaften braucht. Sie werden eh Sachen aus dem Fels entfernen, nicht einbringen. Aber ehe wir anfangen, kriegen Sie von mir noch einen Blitzkurs in der richtigen Entfernung der Kletterhilfen.« Er setzte sich und fing an, seine Wanderstiefel aufzuschnüren.
»Sie kommen nicht mit!«
»Allein können Sie hier nicht klettern. Das habe ich Ihnen schon gesagt … Ich bin dafür verantwortlich, dass Sie sich nicht den Hals brechen«, sagte er und schlüpfte in seine Kletterschuhe. Das war nicht der einzige Grund, das wusste Ardeth, während sie sich an das Café erinnerte. Seine Finger hatten in jener Nacht auch ihre Haut verbrannt.
»Mark, Sie brauchen nicht …«, begann sie, plötzlich von Angst erfüllt. Angst um seine Sicherheit, mehr als um ihre eigene. Angst, dass ihm eine Gefahr drohte, die schlimmer war als die Felsen, schlimmer als ein Absturz, wenn er mit ihr auf den Berg stieg.
»Doch. Keine Sorge, ich bin diese Tour schon öfter geklettert, als ich zählen kann. Und ich habe meine Stirnlampe mitgebracht.«
Er schob sich den Helm zurecht und hakte sich dann die Lampe an den Gurt.
Ich wollte ohnehin nicht wirklich alleine klettern, sagte sie sich und beobachtete ihn. Er will es ja so. Ich kann ihn ja schließlich nicht wegschicken.
Doch, das könntest du, erinnerte sie die geheime Stimme ihrer Macht. Wenn du es wirklich wolltest.
Aber das wollte sie nicht.
Mark erkletterte die erste Steigung, während sie von unten Seil ausgab, bereit, ihn zu sichern, falls er stürzen sollte. Sie überließ es ihm, den Aufstieg zu kontrollieren, entschied, dass seine Erfahrung wahrscheinlich mehr Gewicht besaß als ihre stärker entwickelten Sinne, und bezweifelte ohnehin, dass sie ihn
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