Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
weiß ich.« Ihr Ton war jetzt scharf, und ihre abrupte Geste ließ die Papiere rascheln. Das Schweigen war frostig, als ob ihre Worte Eis heraufbeschworen hätten, das jetzt den Zwischenraum zwischen ihnen füllte. »Wir können nicht hierbleiben.«
»Warum nicht?«
»Weil hier alles zu klein ist. Jeder kennt jeden, sobald die Touristen abgezogen sind.«
»Die Touristen werden in ein oder zwei Monaten wiederkommen, wenn die Skisaison beginnt.«
»Das reicht aus, dass jemand uns bemerkt.«
»Warum sollten sie uns bemerken? Diese Stadt wimmelt von Durchreisenden. Wir sind einfach zwei weitere davon. Wenn wir vorsichtig sind, wird niemand besonders auf uns achten.«
»Es ist aber gefährlich«, beharrte sie, und einen Augenblick lang erahnte Rossokow etwas hinter ihrer Hartnäckigkeit, irgendeinen geheimen Beweggrund, den sie ihm gegenüber nicht zugeben konnte.
»Und wenn wir hier weggehen, wo möchtest du dann, dass wir hingehen?«, fragte er mild.
»Vancouver, New York, Europa. Ich weiß es nicht.«
»Du hast doch gesagt, dass wir ohne die entsprechenden Dokumente das Land nicht verlassen können.«
»Und? Kanada ist groß. Wie wär’s mit Montreal?«
»Sprichst du Französisch?«
»Nein. Aber ich wette, du.«
»Ich spreche recht gut das Pariserisch des neunzehnten Jahrhunderts, wenn auch mit einem Akzent, auf den die Leute mich stets hingewiesen haben. Ich bin nicht sicher, wie weit wir damit in Quebec kommen würden.«
Sie hieb mit der Faust auf die Armlehne ihres Sessels. »Es ist doch gleichgültig, wohin wir gehen. Lass uns einfach hier weggehen.«
»Hier sind wir sicher. Hier ist alles ruhig, Banff liegt abgelegen, und unsere Bedürfnisse werden erfüllt.«
»Aber es ist teuer hier. Wir haben kaum mehr Geld übrig.« Das stimmte, musste er zugeben. Ihre kleine Barschaft war schnell zusammengeschrumpft. Jetzt hatten sie kaum mehr genug, um zu bleiben – und kaum genug, um wegzugehen.
»Wir kommen schon irgendwie durch. Die Welt wird morgen auch noch da sein, und am Tag darauf auch, und noch tausend Jahre, was wissen wir da schon. Wir haben Zeit – zu entscheiden, was wir wollen. Sei nicht so ungeduldig, Kind.«
Sie fuhr aus dem Sessel hoch, die Schultern nach vorne gezogen, die Finger gekrümmt. »Sprich nicht so mit mir! Ich weiß, was wir sind … Und ich weiß, wann du mich mit Ausreden abspeist. Wir sind hier nicht sicherer, als wir es sonst wo wären. Vielleicht sogar weniger sicher. Und was unsere Bedürfnisse angeht – vielleicht brauche ich noch eine andere Beschäftigung, ich meine, außer die Sterne zu betrachten und Elchblut zu trinken.« Die Worte kamen wütend und verächtlich aus ihr heraus. Und als sie ausgesprochen waren, stellte sie sich hinter ihren Sessel, als ob es ihr Kraft verleihen würde, ihn zwischen ihm und sich zu haben.
»Würdest du lieber etwas anderes trinken?«, fragte er leise und sah zu, wie der Zorn in ihr zu Verwirrung verblasste, als sie sich an den Sessel lehnte.
»Nein«, sagte sie schließlich. Doch er wusste, dass das eine Lüge war. Elchblut war nicht wie das Blut von Menschen. Es war so wie Schlamm im Vergleich zu Wasser, Haferbrei im Vergleich zu Kaviar. Aber man riskierte nichts dabei – nicht die Gefahr der Entdeckung oder jenes andere Risiko – das, von dem sie nicht sprach, weil die Sprache des Vampirismus’ anscheinend keine Worte dafür hatte. Das schwarze Loch nahm das Elchblut … aber es konnte ihm keine Hitze abgewinnen.
»Ardeth.« Er zwang sich, den Namen mit seiner Stimme zu liebkosen, ihn süß und verführerisch klingen zu lassen. »Es ist doch erst einen Monat her. Allem Anschein nach sucht niemand nach uns, aber wir können nicht wissen, wie lange das anhalten wird. Dies ist der letzte Ort, an dem jemand uns suchen würde. Wir sind hier sicher.« Rossokow sah, wie ihre Schultern sich lockerten, wie ihr Zorn sich unter der kühlen Vernunft seiner Stimme löste. Für einen Augenblick verachtete er sich dafür, dass er seine hypnotische Kraft gegen sie eingesetzt hatte. Er wusste, dass sie noch nicht die Kräfte in sich entwickelt hatte, die es ihr erlauben würden, ihm Widerstand zu leisten. Aber es war besser, als diese endlose Auseinandersetzung, redete er sich selbst ein.
»Tu das nicht!«, herrschte sie ihn an. Sie blickte auf, und ihre Augen funkelten im Licht. »Mach das nicht mit mir, bloß weil du nicht mehr darüber reden willst. Wir müssen uns damit auseinandersetzen. Wir müssen Entscheidungen treffen.« Sie kam,
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