Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
fühlten sich ihre Finger auf dem Stein und dem Seil rutschig und dick an, als wären sie voll Gedanken an Verrat. Ein Zittern fing an, sich in die Zwischenräume ihrer Wirbelsäule und zwischen die Muskeln ihrer Beine einzuschleichen. Sie blickte nach unten, in die spitzen Äste und Zweige weit unter sich, und dachte an angespitzte Pfähle, die darauf warteten, ihr unnatürliches Herz aufzuspießen.
»Ich steige weiter.« Marks Stimme lenkte ihren Blick wieder nach oben, wo er sich nach den nächsten Griffen hinein in das momentane Mondlicht streckte. Sie sah nicht, was dann passierte, hörte nur sein entsetztes Aufstöhnen und das Zischen des Seils in den Metallkarabinern, als er den stacheligen Armen des Waldes entgegenfiel.
Das Seil spannte sich ruckartig in ihren Händen, und ihre Muskeln klammerten sich fest. In diesem Augenblick vergaß ihr Verstand jede Sicherungstechnik und jedes Gewichtsverhältnis, das ihr Körper mit unnatürlicher Stärke kompensierte. Dabei ignorierte sie die Tatsache, dass die Seilbremse an ihrem Klettergurt schon lange zuvor das Seil an jeder weiteren Bewegung gehindert hatte.
Dann war es vorbei, und Mark baumelte über ihr und ein Stück zu ihrer Linken im Seil. Er war mindestens drei Meter tief gestürzt, ehe ihn das Seil und der letzte Sicherungshaken, den er in die Wand geschlagen hatte, aufgefangen hatten. Sie konnte seinen rasselnden Atem hören, die eisigen Schweißtropfen auf seinem weißen Gesicht erkennen. »Mark?«
»Ja. Alles klar. Keine Angst.« Die Stille zwischen den Worten ließ sie hören, wie er seine eigene Angst niederkämpfte. Einen Augenblick lang dachte sie, sie könne seinen Herzschlag fühlen, ein schnelles Echo ihres eigenen, das am Fels widerhallte. »Bleiben Sie einfach, wo Sie sind. Wenn der Mond wieder herauskommt, steige ich wieder nach oben.«
Ardeth drückte die Stirn gegen den Fels und zwang mit schierer Willenskraft ihre Finger dazu, den verkrampften Griff vom Seil zu lösen. Sie blickte zu der verräterischen Mondscheibe auf und sah zu, wie die dicksten Wolken langsam auffaserten und lediglich ein schwaches Gewebe über dem Antlitz des Mondes hinterließen. Sie hörte, wie Mark sich wieder in Bewegung setzte.
Er brauchte ein paar lange, mühsame Minuten, um die drei Meter zu seiner letzten Position zurückzuklettern. Als er sie erreicht hatte, hing er einen Augenblick lang in seinem Geschirr und atmete schwer. »Herrgott, ich hab’s doch gewusst – ich hätte den Biwaksack mitbringen sollen. Wir werden die ganze Nacht hier draußen sein.«
»Es ist doch erst ein Uhr. Die Wolken werden bald verschwinden. « Sie sah, wie er sich etwas zur Seite beugte, um zum Mond aufzublicken.
»Wenn wir Glück haben. Wir werden noch eine Weile hier sein. Ich verankere uns hier. Keine Sorge«, fügte er dann hinzu, als er ihren unsicheren Blick gesehen hatte, »Sie sind da gut eingehängt. Das Seil und Ihr Klettergurt tragen Sie.«
Ardeth nickte, und ihre Muskeln lockerten sich ein wenig. Dann ließ sie ihre Füße ein neues Gleichgewicht auf dem schmalen Sims suchen und lehnte sich dann in ihren Gurt zurück. Ihre Arme schmerzten von der Anspannung, die ihr noch in den Knochen steckte, und sie zwang sich, sie vom Seil zu lösen und sie an der Seite herunterbaumeln zu lassen.
»Also, wie gefällt es Ihnen denn bis jetzt?«, fragte Mark locker, und sie lachte und blickte zu ihm hinauf.
Er hatte sich in seinem Gurt entspannt und stemmte jetzt die Füße gegen die Wand, während er über die Schulter zu ihr heruntersah.
»Warten Sie, bis wir oben sind, dann sage ich’s Ihnen.«
»Aber Sie müssen doch zugeben, dass die meisten Leute sich nicht so viel Mühe machen würden, bloß um mit einem Mädchen allein im Mondlicht zu sein.«
»Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie den Sturz getürkt haben«, konterte Ardeth.
»Nein, der war echt.« Sie fing seinen kurzen Blick nach unten auf. Er sah sie an und ignorierte entschlossen die Dunkelheit unter ihnen. »Da wären wir also. Warum erzählen Sie mir nicht ein wenig über sich?«
»Warum?«
»Weil es die Zeit vertreibt. Weil ich es wissen möchte.« Einen Augenblick lang zitterten die Worte wie ein Echo in Ardeths Bewusstsein. Sie hörte, wie ihre eigene Stimme dieselben Worte zu Rossokow sagte, tief im Alptraum ihrer Gefangenschaft.
»Also gut«, sagte sie schließlich vorsichtig. »Was wollen Sie wissen?«
»Wo kommen Sie her?«
»Aus Toronto.«
»Was machen Sie in Banff?«
»Toronto hinter mir
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