Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
wieder ermutigt, um den Stuhl herum und baute sich vor ihm auf. »Wir müssen entscheiden, was wir tun werden, wo wir als Nächstes hingehen werden und wie wir an Geld kommen.«
Jede der Fragen bohrte sich wie ein Spieß in ihn, durchstach die schützende, kosmische Dunkelheit, in die er sich eingehüllt hatte. Und hinter jeder Frage lauerten hundert weitere: Wo würden sie die Papiere herbekommen, die sie brauchten, um zu reisen? Wie konnten sie Bankkonten eröffnen und Identitäten aufbauen, um sich in der Gegenwart zu schützen und um ihre Zukunft zu sichern? Was würden sie tun, wenn das Geheimnis ihrer Existenz bekanntwurde?
Für ihn war es nie zuvor so gewesen. Er hatte nie länger als zwanzig Jahre geschlafen. Und dann war er immer wieder mit einem Hort leicht umzutauschenden Reichtums aus seinem Versteck gekrochen – Gold oder Juwelen – und hatte für sich einen Platz in der Welt gesucht und gefunden. Wenn sein Akzent und seine Kleidung seltsam und altmodisch gewirkt hatten, dann hatte ihm das für gewöhnlich nicht geschadet. Häufig hatte er sogar Vorteile aus dem Reiz gezogen, den dieser subtile Unterschied erzeugte. Und dann hatte er sich mit der Zeit in der Welt akklimatisiert, die sich während seines Schlafes weitergedreht hatte, und er hatte angefangen, für das nächste Mal zu sparen und zu planen, wenn er sich wieder verstecken oder wohin er weiterziehen musste.
Aber diesmal war ein Jahrhundert verstrichen. Diesmal war er mit nichts aufgewacht. Diesmal war er in einer Welt erwacht, die sich, wie es schien, in den Jahren seines Schlafes dramatischer verändert hatte als in all den Jahrhunderten seit seiner ersten Geburt.
Es gab noch so viel an diesem neuen Jahrhundert, was er nicht wusste. Wenn er an ihre Zukunft dachte, dann warf das tausend praktische Fragen auf … und sie erwartete von ihm, dass er die Antwort für jede einzelne davon parat hatte.
»Wir müssen uns damit auseinandersetzen«, beharrte Ardeth. »Wovor hast du solche Angst?«
Die Worte schwebten auf seiner Zunge, das Geständnis all seiner Unsicherheit, und doch war da etwas, was sie zurückhielt, irgendein Stolz, der sich erst in Wut verwandelte und dann in den blinden Drang, ihren Fragen ein Ende zu machen, ihren Zweifeln an ihm, und zwar mit jedem Mittel, dessen es dazu bedurfte. Er faltete die Hände im Schoß und blickte zu ihr auf. »Wenn du mit meinen Entscheidungen nicht zufrieden bist, kannst du ja gehen. Du kannst jederzeit gehen.«
Er hörte, wie ihr Atem stockte, und blickte zu ihr auf, sah, wie ihr Gesicht blass wurde, ihre Augen ihr Feuer verloren und zu einem weichen, verwundeten Braun schmolzen. In dem Augenblick wäre er beinahe aufgestanden, um sie in die Arme zu nehmen und die kalten, verächtlichen Worte zurückzunehmen.
»Und willst du das?«
»Nein.«
Nach einem langen, eisigen Schweigen senkte sie den Kopf und ging hinüber ins dunkle Schlafzimmer.
Rossokow saß reglos da und starrte den leeren Stuhl an, den sie zurückgelassen hatte. Sie würde nicht gehen, soweit konnte er die Zukunft vorhersagen. Und außerdem konnte er vorhersagen, dass sie über kurz oder lang feststellen würde, dass er ihre Frage nicht beantwortet hatte.
7
Es würde schön werden.
Ardeth blickte an der Felswand empor und lächelte. Der Mond, hell wie ein Scheinwerfer, ruhte in ihrem Rücken über den Bergen und beleuchtete die Spalten und Rinnen über ihr. Sie ließ den Blick zwischen den Felsen und dem Papier, das sie in der Hand hielt, hin und her wandern, und Marks Plan ergab zum ersten Mal einen Sinn. Sechs deutlich voneinander abgesetzte Kletterrouten, die sich an der breiten Ostwand des Tunnel Mountains nach oben schlängelten. Der kleine, gerundete Berg, der wie eine Miniatur der großen Felsgipfel rings herum wirkte, bildete die Ostgrenze der Stadt, und sobald sie einmal oben war, würde der Fußweg nach unten zu ihrer Wohnung nur mehr eine Kleinigkeit sein.
Kein Problem, sagte sie sich entschlossen.
Sie schlüpfte aus ihrer Jacke und stand in ihren schwarzen Kletterhosen und in ihrem Talisman-T-Shirt in der kühlen Herbstluft. Der kurze Fußmarsch zum Fuß der Felswand hatte ihr einen klaren Kopf verschafft, und ihr Körper fühlte sich lockerer und zugleich kräftiger an. Das Elchblut war heiß und belebend gewesen, und sie bildete sich ein, es habe sogar ihre kalten Muskeln erwärmt. Sie würde ohne die Sicherheit klettern müssen, die ihr entweder ein Toprope oder jemand, der sie von unten sicherte,
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