Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
zu etwas anderem hätte überreden können.
Und dann, nur zu bald, war sie an der Reihe aufzusteigen, während Mark über ihr hing und das Seil nachzog.
Es war ganz anders als an der Kletterwand. Der Fels fühlte sich unter ihren Fingern echt und rau an, scheuerte an ihren Händen und Knien und offenbarte immer wieder unerwartete Griffe. Im Mondlicht wirkte der Berg wie eine in eine schwarze und eine weiße Hälfte geteilte Welt mit allen Schattierungen von Grau dazwischen. Die Risse im Gestein schienen ihr die schwärzeste Dunkelheit, die sie je gesehen hatte, und an den Vorsprüngen glitzerte Diamantquarz.
Und trotz des Mondlichts, trotz ihrer Nächte in der Kletterhalle, trotz ihrer unsterblichen Stärke waren die ersten zwanzig Meter beängstigend. Sie arbeitete sich Zentimeter für Zentimeter in die Höhe, zwang ihre Hände und Füße, sich zu bewegen, und vermied es, nach unten zu sehen. Die Augenblicke, in denen sie innehalten und die Haken entfernen musste, die er in die Felsspalten getrieben hatte, waren besonders qualvoll, während sie sich damit abmühte, sich eine gewisse Fingerfertigkeit anzueignen, mit der sie die Teile aus dem Gestein entfernte und sie an ihren Gurt hängte. Sie wusste, dass Mark ihre Unsicherheit spüren konnte, achtete aber nicht darauf und rief ihre Anweisungen so leger nach oben, als ob sie das schon seit Jahren gemacht hätte.
Was für Folgen ein Fehler hätte, versuchte sie sich gar nicht erst auszumalen. Wenn sie stürzte und das Seil sie nicht hielt … Ihr Vampirkörper mochte stark sein, aber ein Sturz auf die Felsen in der Tiefe könnte ihr ernsthaften Schaden zufügen. Was würde passieren, wenn sie sich das Rückgrat brach? Wäre das ihr Tod? Aber selbst, wenn sie nur verletzt wurde, könnte das gefährliche Folgen haben. Sie würde in ein Krankenhaus gebracht werden und dort mit der Entdeckung rechnen müssen. Sie würde Mark sicher nicht dazu überreden können, keine Hilfe zu holen, und wenn sie schwer verletzt war, würde sie ihn auch nicht gewaltsam daran hindern können.
Hier gibt es nichts, wovor du Angst zu haben brauchst, redete sie sich ein. Ich kann nicht stürzen, dafür ist das Seil da, und – ich kann nicht sterben, ich kann nicht sterben. Die Worte tönten wie eine Litanei in ihrem Bewusstsein, und nachdem sie zwanzig Meter zurückgelegt hatte und nicht gestürzt war, nicht wieder gestorben war, begann sie, daran zu glauben.
Bei dreißig Metern spürte sie, wie sich allmählich ein Rhythmus einstellte, ein erstes Dämmern davon, wie das Gefühl sein musste, wenn man das gut konnte, wenn man die Angst gebändigt und das bewusste Denken in den Hintergrund verdrängt hatte. Wenn man sich ganz dem rauen Fels und dem behänden Spiel der Muskeln hingeben konnte. Ihre Hand schloss sich über einem Griff, ihr Fuß stieß sie zum nächsten Griff in die Höhe, ihre Finger tasteten nach dem Absatz, hielten sie fest. Das alles lief so glatt und leicht, dass sie unwillkürlich lachen musste. Dann sah sie über sich Marks Gesicht, als der auf sie herunterblickte.
»Alles klar?«
»Ja.« Sie lachte wieder. »Ich glaube, jetzt bin ich dahintergekommen, warum Ihnen das Spaß macht.« Sein Lachen schwebte am Seil herunter und verband sich mit dem ihren.
Sie wechselten sich wieder ab, und Ardeth verankerte sich an den in den Fels eingelassenen Haken, die den zweiten Sicherungspunkt darstellten, und ließ Mark vorausklettern, bis der eine sichere Position gefunden hatte und sie ihm folgen konnte, dem Mond entgegen, der über ihren Köpfen dahinsegelte.
Auf halbem Weg den Berg hinauf änderte sich alles.
Aus irgendeinem Versteck tauchten Wolken auf und tasteten mit langen Dunstfingern nach der Mondscheibe. Während sie sicherte, hörte sie Mark über sich fluchen, und dann das Klappern seiner Geräte, die an seinem Gurt hingen. Wieder fluchte er, und im selben Augenblick plumpste irgendetwas Dunkles an ihr vorbei. »Was ist denn los? Was war das?«
»Meine Lampe. Haben Sie eine mit?«
»Nein«, gab Ardeth zu. Dann herrschte lange Zeit Stille.
»Keine Angst. Das kriegen wir schon hin. Wir warten, bis der Mond wieder herauskommt.« Die Worte klangen beruhigend, aber der Unterton von Besorgnis in seiner Stimme blieb ihr nicht verborgen. Sie fröstelte, obwohl ihr nicht kalt war.
Von da an bewegte er sich nur, wenn Mondlicht zu sehen war. Das ewige Anhalten und wieder Losklettern zerrte an Ardeths Nerven. Selbst wenn sie sicher in ihrem Sitzgurt an den Haken hing,
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