Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Aber sie hatte ihn hartnäckig bis zum dritten Abend nach dem Begräbnis ihres Vaters warten lassen. Als sie aus der Hotelhalle angerufen hatte, hatte sich Akiko gemeldet und nach kurzer Pause dem Treffpunkt in der Hotelbar zugestimmt, allerdings zehn Minuten nach dem vorgeschlagenen Zeitpunkt. Lisa war fest entschlossen, sich nicht überraschen zu lassen. Falls die vorhatten, sie zu entführen oder sie gar zu töten, würde es ihnen nicht leichtfallen.
Aber falls sie es wirklich wollten, würden sie es dennoch tun können. Um das zu wissen, brauchte sie sich bloß an Takashi Yamagatas Augen zu erinnern und an seine Finger, mit denen er ihr Handgelenk gepackt hatte.
Sie blickte auf das Glas Mineralwasser, das sie in der Hand hielt, und stocherte dann abwesend mit dem winzigen wie ein roter Degen geformten Cocktailspieß aus Kunststoff an dem Limonenschnitz herum, der im Glas schwamm.
»Takara-san?«
Ihr Kopf ruckte in die Höhe, und ihr Blick erfasste den kleinen Mann, der an ihrem Tisch stand. Einen Augenblick lang sah sie ein breites Gesicht und Augen, die von einer Sonnenbrille verdeckt waren Dann verbeugte er sich leicht.
»Konbanwa. Fujiwara Sadamori desu.«
»Konbanwa«, antwortete sie und forderte ihn auf, sich zu ihr zu setzen, deutete auf die gepolsterte Bank ihr gegenüber. Die japanischen Silben klangen in ihrem Mund seltsam fremd und unbeholfen. Sie hatte befürchtet, dass er nur Japanisch mit ihr sprechen würde und sie dann gezwungen wäre, sich durch das Gewirr aus Höflichkeit und Verpflichtung zu quälen, wo doch jeder Fehler ihr Leben bedeuten konnte.
»Vielen Dank, Dr. Takara. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir Englisch sprechen könnten. Ich fürchte, meine Sprachkenntnisse sind ein wenig eingerostet, und ich bin für jede Gelegenheit dankbar, in der ich üben kann«, sagte er in makellosem Englisch. Einen Augenblick lang fühlte Lisa sich zwischen Wut und Dankbarkeit hin- und hergerissen. Er hatte ihr in vollendeter Höflichkeit erspart, in Japanisch über ihre Freiheit verhandeln zu müssen, aber sie wusste, dass er darauf hätte bestehen können, in seiner eigenen Sprache zu sprechen … und dass sie jetzt bereits für diese Gefälligkeit in seiner Schuld stand.
»Selbstverständlich«, sagte sie schließlich und war erleichtert, als in diesem Augenblick ein Kellner neben ihr auftauchte.
»Zweimal das, was die Dame hat«, sagte Fujiwara, und der Kellner verschwand wieder. Lisa blickte über den Tisch und wünschte sich, der Mann würde seine Sonnenbrille absetzen. Sie schien mehr als nur seine Augen zu verdecken und verwandelte sein ganzes Gesicht irgendwie in eine Maske. Sie konnte sein Alter nicht einschätzen. Sein Haar zeigte an den Schläfen graue Strähnen, aber sein Gesicht ließ keinerlei Falten erkennen, und seine Kinnpartie war fest. Sein grauer Anzug sah teuer aus, seine Krawatte auch, schwere Seide mit einem zarten Muster aus fliegenden Kranichen. An seinen breiten, kräftig wirkenden Fingern, die auf dem Tisch lagen, steckten keine Ringe. Sie warf unwillkürlich einen Blick auf sein Handgelenk, suchte unter den makellos weißen Hemdmanschetten nach einer Tätowierung, sah aber nichts.
»Vielen Dank, dass Sie sich bereiterklärt haben, sich mit mir zu treffen.«
»Hatte ich denn eine Wahl?«
»Selbstverständlich. Sie hätten beispielsweise zur Polizei gehen können. Aber wenn Sie das vorgehabt hätten, dann hätten Sie es getan, nachdem Mr. Yamagata Sie befragt hat. Es hat mich in hohem Maße verwirrt, dass Sie das nicht getan haben.«
Beinahe hätte sie gefragt, woher er wusste, dass sie nicht bei der Polizei gewesen war, aber dann wurde ihr klar, dass das unwichtig war. »Ich hatte in Toronto genug mit der Polizei zu tun. Ich habe denen alles gesagt, was ich weiß. Und Mr. Yamagata habe ich auch alles gesagt. Und jetzt möchte ich nur, dass man mich in Frieden lässt.«
»Für die Polizei in Toronto kann ich nicht sprechen, aber ich weiß, dass Mr. Yamagata Ihnen nicht glaubt.«
»Daran kann ich nichts ändern.«
»Aber ich. Wenn Sie mir vielleicht erzählen würden . . .« Er verstummte, als der Kellner wieder auftauchte und ihre Gläser auf den Tisch stellte. Als er weg war, beugte Lisa sich vor und fing zu reden an. Sie dämpfte dabei ihre Stimme, ohne sich dessen bewusst zu sein, und erzählte ihm dieselbe Geschichte, die sie allen anderen auch erzählt hatte. Als sie fertig war, sah sie, wie um den Mund des Yakuza -Bosses ein schwaches Lächeln spielte, und
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