Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
dann nickte er nachdenklich. Sie griff nach ihrem Glas und nahm einen kleinen Schluck. Fujiwara hatte sein Glas noch nicht angerührt.
»Nachdem Sie mir jetzt eine Geschichte erzählt haben, erlauben Sie mir jetzt bitte, dass ich Ihnen eine erzähle«, sagte er, nachdem ein langer Augenblick verstrichen war. »Vor etwa sechs Monaten sah ein ehrgeiziger junger Mann – wir wollen ihn Yamagata nennen – einen Hardcore-Pornofilm. Ohne Zweifel glaubten nur wenige Leute, dass das, was sie in dem Film gesehen hatten, mehr als nur gespielt war. Oder, falls dabei wirklich jemand getötet worden war, ob dann nicht wenigstens die Art und Weise des Todes irgendwie verfälscht war, weil das Ganze wie aus einem Horrorfilm aussah. Aber Mr. Yamagata hatte ein geschultes Auge und argwöhnte deshalb, dass alles echt war. Er verfolgte die Spur des Films zu den Leuten zurück, die ihn hergestellt hatten. Zu Leuten, die im Dienst einer multinationalen Firma standen, die zugleich Partner und Konkurrent der kriminellen Organisation waren, der der junge Mann angehörte. Als Gerüchte zu ihm durchdrangen, dass diese Firma sich damit beschäftigte, Wissenschaftler einzukaufen oder unter Zwang in ihre Dienste zu pressen, fand er eine Möglichkeit, sich Zugang zu der Firma zu verschaffen. Die Tochter eines Mannes, dem seine Organisation einmal behilflich gewesen war und der deshalb in ihrer Schuld stand, war eine führende Wissenschaftlerin. Es bedurfte sorgfältiger Planung, aber er brachte es zuwege, dass diese Firma sie in ihre Dienste nahm. Er hörte einige Monate nichts von ihr. Dann, nach einer Nacht der Gewalt, tauchte sie wieder auf, als einzige Überlebende des Brandes, bei dem Havendale und all seine Geheimnisse zerstört wurden. Und als er sie befragte, ja, sie sogar bedrohte, behauptete sie, gar nichts zu wissen. Also wartet er, versucht sich darüber klarzuwerden, ob der Pornofilm gelogen hat … oder ob sie gelogen hat. Und zugleich überlegt er, welches Risiko er bereit war, in einem fremden Lande auf sich zu nehmen, um sie dazu zu bringen, ihm die Wahrheit zu sagen.«
»Und was haben Sie mit dieser ganzen Geschichte zu tun?«
»Ah, eine sehr gute Frage. Der junge Mann glaubt, dass der Leiter seiner Organisation nicht weiß, was er die ganze Zeit getrieben hat. Das ist natürlich nicht der Fall. Der Oyabun weiß es … und ahnt auch die Gründe. Der Oyabun übernimmt eine gewisse … Verantwortung für das, was sein Mittelsmann getan hat. Und …«, der Mann lächelte plötzlich spitz, »der Oyabun weiß jetzt, dass die Frau diejenige ist, die lügt.«
Lisa spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Ihre Wirbelsäule wurde plötzlich zu Wasser, und sie presste sich mit aller Kraft gegen die Rückwand der Nische, drückte beide Hände flach auf den Tisch vor ihr. Sie durfte jetzt nicht in Panik geraten, nicht jetzt, wo sie klar und präzise denken musste. »Weshalb sollte ich lügen?«, fragte sie schließlich.
»Weil Sie Angst haben, dass man Ihnen nicht glaubt. Weil Sie Angst haben, dass man Ihnen glaubt. Oder vielleicht, weil Sie irgendetwas anderes noch mehr fürchten, als sie die Yakuza fürchten.«
»Und wenn ich gelogen habe, weshalb sollte ich Ihnen dann die Wahrheit sagen?«
»Weil mein Interesse … einmaliger Natur ist. Sagen Sie mir, Dr. Takara, glauben Sie an Vampire?«
Die Frage raubte ihr den Atem, drohte ihren gesunden Menschenverstand ebenfalls mitzureißen. Nicht einmal Yamagata hatte das Wort ausgesprochen. Sie kämpfte um ihre Fassung und gewann sie mit einiger Mühe zurück. Es ist doch nur eine weitere Lüge … Und wenn du es richtig anstellst, dann ist es überhaupt keine Lüge, machte sie sich klar. »Vampire? Sie meinen europäische Grafen in schwarzen Umhängen, die sich in Fledermäuse verwandeln? Ich bin Wissenschaftlerin, Mr. Fujiwara, ich glaube nicht an Märchen. «
Er lachte plötzlich, ein leichtes, amüsiertes Lachen. »Sehr geschickt, Dr. Takara. Nein, ich meine nicht ›europäische Grafen in schwarzen Umhängen, die sich in Fledermäuse verwandeln‹. Ich meine Vampire.«
»Ich glaube nicht an Märchen«, wiederholte Lisa. »Sie etwa?«
»Ja. Und Mr. Yamagata auch. Und deshalb sollten Sie mir die Wahrheit sagen.«
»Sie können glauben, wozu Sie Lust haben. Ich verstehe nicht, warum das etwas mit mir zu tun hat.«
Er lächelte nachsichtig. »Ich glaube außerdem auch, dass Sie eine äußerst intelligente Frau sind. Althea Dale war ganz eindeutig dem Wahnsinn verfallen … aber Mr.
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