Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Parkplatz des Restaurants füllten. Dort sind sie jetzt also alle, dachte sie amüsiert, all die Autos, die an mir vorübergefahren sind, ohne anzuhalten. Ihr kam die Raststätte in keiner Weise attraktiver als die vielen anderen vor, die sie auf ihrer Reise zu sehen bekommen hatte, aber vielleicht kam es auf die Lage an. Vielleicht stand dieses Restaurant genau an dem Punkt, den man in jenem Augenblick erreichte, wenn man anfing, Hunger zu bekommen – ganz gleich, von wo man aufgebrochen war oder wo man hinwollte.
Ein kleines Frösteln überlief sie und machte ihr bewusst, dass sich in den Tiefen ihres eigenen Körpers auch eine Art Hunger regte. Sie hatte erst letzte Nacht von einer schläfrigen Kuh getrunken, aber allem Anschein nach befriedigte das noch weniger als Elchblut. Die vielen Kilometer, die sie zu Fuß gegangen war – letzte Nacht und auch in der Stunde, seit sie aufgewacht war –, hatten sie müde und reizbar gemacht. Sie hatte unruhig geschlafen, war immer wieder aufgewacht, weil sie sich im Keller des leeren Hauses, auf das ihre Wahl schließlich gefallen war, nicht sicher gefühlt hatte.
Auf der Speisekarte des Restaurants stand nichts, was ihr als Nahrung dienen konnte, aber vielleicht würde sie in dem überfüllten Lokal jemanden finden, der sie auf der nächsten Etappe ihrer Reise mitnahm.
Als sie dann in der Schlange stand, sah sie sich unter den Fahrern um, die zur Auswahl standen. Ein paar Lkw-Fahrer, Teenagergruppen aus irgendeiner der Nachbarortschaften, Familien mit müden, quengeligen Kindern, einsame Männer, die entweder zum Fenster hinaus oder in ihre Kaffeetassen starrten.
Das sah gar nicht gut aus, erkannte sie und seufzte. Sie wünschte sich zum wiederholten Mal, sie könnte einfach einen Bus oder einen Zug nehmen. Während sie durch die leere Nacht dahinschritt, hatte sie daran öfter als einmal gedacht. In einer der größeren Ortschaften hatte sie sich sogar die Fahrpläne angesehen. Aber beide Transportmöglichkeiten hatten sich als wesentlich teurer erwiesen, als sie erwartet hatte. Sie konnte es sich nicht leisten – selbst, falls sie bereit wäre, die damit verbundenen Gefahren auf sich zu nehmen: Unkontrolliert Tageslicht ausgesetzt zu werden, in der Öffentlichkeit schlafen zu müssen und damit verletzbar zu sein, und zu allem Überfluss kaum eine Gelegenheit, auf sichere Art und Weise Nahrung zu sich nehmen zu können.
An der Theke bestellte sie sich heiße Schokolade, um ihre Anwesenheit zu rechtfertigen, und suchte sich dann einen Platz. Die Nischen an den Wänden und Fenstern waren besetzt, und an den Tischen saß überall mindestens ein Gast. Sie musterte die Gesichter sorgfältig. Ein Mann fing ihren Blick auf und lächelte. Sie sah weg.
Nicht weit entfernt saß eine einzelne Frau, sie hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich auf dem Tisch. Sie aß Pommes frites und tat dies mit automatischer Regelmäßigkeit: Ihre Gabel wurde zum Mund gehoben, ohne dass ihr Bewusstsein, wie es schien, davon etwas zur Kenntnis nahm. Mitte dreißig, vermutete Ardeth, nach den angedeuteten Falten zu schließen, die ihre Augen und ihren Mund umspielten. Ihr Haar war braun und kurzgeschnitten. Silberne Ohrringe mit grünen Perlen baumelten an ihren Ohren, verfingen sich beinahe in dem voluminösen blauen Pullover, den sie trug.
Ardeth sah ihr zu, wie sie wieder einen Mundvoll Pommes verschluckte, ohne dabei hinzusehen. So habe ich es auch einmal gemacht, dachte sie mit einem distanziertem Gefühl von déjà vu. Ich saß in Restaurants und aß alleine und nahm mein Essen kaum zur Kenntnis, weil ich dauernd gelesen habe.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich zu Ihnen setze? « Als sie Ardeths Frage hörte, blickte die Frau auf.
»Nein, setzen Sie sich ruhig«, antwortete sie und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Ardeth legte den Kopf etwas zur Seite, um den Titel erkennen zu können: Der goldene Zweig. Sie hatte das Buch vor langer Zeit einmal gelesen, als sie damals für eine Semesterarbeit in Anthropologie recherchiert hatte. Sie stellte die Tasse ab und überlegte, wohin die Frau wohl unterwegs sein mochte.
»So etwas sieht man Leute selten in solchen Restaurants lesen«, meinte sie schließlich, worauf die Frau aufblickte. Ihre blauen Augen musterten sie interessiert und zugleich vorsichtig.
»Das ist für die Schule.«
»Sind Sie Studentin oder Dozentin?«
»Dozentin. Englische Literatur, Universität Winnipeg.« Ihr Blick huschte wieder in das Buch zurück, wandte
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