Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
jede Nacht seit ihrer Flucht bewölkt gewesen, so dass ihm selbst der Trost der Sterne versagt gewesen war.
Du solltest erleichtert sein, sagte er sich und nippte wieder an seinem Espresso. Jetzt gibt es keine Fragen mehr zu beantworten, keine Entscheidungen zu treffen. Er brauchte die Zukunft jetzt nicht mehr zu lenken – er musste sie nur geschehen lassen.
Wieder bloß saure Trauben, dachte er und verbarg sein bitteres Lächeln in einem weiteren Schluck von dem bitteren Kaffee. Denn sie hatte die Fragen nicht mitgenommen – sie hatte neue Fragen zurückgelassen. Er hatte daran geglaubt, als er ihr gesagt hatte, dass sie Einzelgänger seien, Geschöpfe der Einsamkeit. Er hatte es auch geglaubt, als er die »schönen Reden« über Moral und Sterblichkeit gehalten hatte, die sie ihm so giftig vorgeworfen hatte. Dimitri, mein Freund, du bist ein Mann mit flexiblem Verstand. Eine wichtige Eigenschaft für einen Vampir, das hatte er wenigstens immer geglaubt.
Aber wenn die schönen Reden wahr waren, warum hatte er sich dann so leicht von den darin enthaltenen Lehren losgesagt? Und wenn Alleinsein das einzig Wahre darstellte, weshalb fühlte er sich dann so einsam?
Ein Geräusch von der Tür, eine vertraute Stimme, riss seine Aufmerksamkeit in die Welt zurück, die ihn umgab. Er blickte auf. Plötzliche, jeder Vernunft widersprechende Hoffnung bohrte sich wie ein stechender Schmerz in sein Herz …
Die dunkelhaarige Ärztin stand mit einer Gruppe von Freunden an der Theke. Ihr Haar fiel lose herab und glänzte. Ihr hochgewachsener, dünner Körper, den die engen Jeans und der grellrote Parker kaum bändigen konnten, schien voll sehniger Energie. Rossokow erinnerte sich an jenen Körper, eingezwängt zwischen ihm und dem Zaun. Die Erinnerung an ihr Blut überlagerte den Geschmack des Kaffees auf seiner Zunge.
Sie drehte sich plötzlich um, ihr Blick wanderte durch das Café, suchte nach einem freien Tisch, während ihre Begleiter bestellten.
Sieh mich an!
Einen Augenblick lang begegneten ihre Augen den seinen, und er stellte zum ersten Mal fest, dass sie blau waren. Dann zog ihr Blick weiter, angezogen von den leeren Tischen zu seiner Linken.
Unglaube wallte einen Augenblick lang in ihm auf und gleich danach die Wut. Wie konnte sie es wagen, ihn zu ignorieren? Wie konnte sie wagen, die Macht, die er über sie hatte, nicht zur Kenntnis zu nehmen?
Etwas knackte. Er blickte herab und sah den Griff der Espressotasse zwischen seinen Fingern. Seine Wut verebbte ebenso schnell, wie sie in ihm aufgestiegen war.
Und dafür hast du Ardeth verloren? Um einer Frau willen, deren Unterbewusstsein sich deiner nicht einmal erinnert?
Er legte zwei Dollar für die zerbrochene Tasse auf den Tisch und verließ das Café, darauf bedacht, Leigh nicht anzusehen. Aber ihr Lachen folgte ihm in die Nacht hinaus.
Er ließ seine Füße ziellos dahinwandern, er wollte nicht so früh in seine leere Wohnung zurückkehren. Die Nebenstraßen von Banff waren still. Ein Wagen kam ihm entgegen, fuhr an ihm vorbei, und seine Scheinwerfer blendeten ihn. Hinter sich konnte er das Zischen von Fahrradreifen auf dem Asphalt hören, dann fegte der Radfahrer an ihm vorbei, seine Beine pumpten, sein langes Haar flog im Wind.
Auf dem Weg zum Fluss fand er sich plötzlich vor dem Friedhof wieder. Er stand einen Augenblick lang am Tor, folgte dann seinem Impuls und kletterte über den Drahtzaun. Er ging einen kiesbestreuten Weg entlang, blieb immer wieder stehen, um sich die Inschriften anzusehen. Es waren hauptsächlich schottische, irische und italienische Namen. Sie datierten vom Beginn des Jahrhunderts an. Die Grabsteine trugen Engel und Kränze und hie und da auch die Berge, welche die Toten geliebt und für die sie manchmal gestorben waren.
In der Mitte stand ein Mausoleum, kein besonders aufwendiges. Jedenfalls nicht mit den großen Familienkrypten zu vergleichen, in denen er in Europa so oft Zuflucht gesucht und gefunden hatte. Aber selbst in dieser Stadt musste es Gründerfamilien geben, die ihre Toten in Granit und Marmor bestatteten, statt in Holz und Erde. Er ging zur Tür und spähte durch das kupferfarbene Gitter nach innen. Mondlicht fiel auf weißen Marmor.
Seufzend drehte Rossokow sich um und ließ sich, den Rücken an die Metalltür gelehnt, auf der steinernen Treppe nieder. Wie mochte man sich wohl dabei fühlen, wenn man im Inneren jenes kalten Steins ruhte? Ewig dort zu liegen, während das Fleisch verfiel und die Knochen weiß
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