Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
wenigstens nicht vor den Kerlen. Aber es wäre langweilig, gegen eine Folge von Anmachen anzukämpfen, ob diese nun subtil waren oder nicht. Und wenn einer sie zu sehr unter Druck setzte … nun, die Gefahr war groß, dass sie der Versuchung erlag, der Lockung von Blut und Rache. Es gab keinen Grund, nicht wieder sterbliches Blut zu kosten. Allerdings nicht jetzt, es musste die richtige Zeit und die richtige Person sein. Warum ihr das so viel bedeutete, wusste sie selbst nicht genau, aber es war jedenfalls so. Wenn sie es tat, dann würde es dem entsprechen, was ihre Begegnung mit Mark versprochen hatte – und alles das, was Rossokows anonyme Nahrungsaufnahme nicht gewesen war.
Was auch immer ihre Gründe waren, ihre feste Entschlossenheit hatte zur Folge gehabt, dass sie selten mitgenommen worden war – weil die Leute, die sie für ungefährlich hielt, auch diejenigen waren, die sie für gefährlich hielten. Jetzt war sie müde, hungrig und – Vampir oder nicht – ihr taten die Füße weh. Sie war so lange marschiert, ohne auch nur die geringste Chance, mitgenommen zu werden, dass sie, als der Wagen an ihr vorbeigerollt war, sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, den Daumen auszustrecken. Zu ihrer Überraschung hatten die Bremslichter aufgeleuchtet, und der Wagen war vor ihr auf dem Seitenstreifen zum Stillstand gekommen.
Jetzt saß sie bequem auf dem Rücksitz und konnte sehen, dass die Frau irritiert und der Mann neugierig war. Sie waren beide Ende fünfzig, entschied sie. Die grauen Haare der Frau mussten früher einmal rot gewesen sein; an ihren Augenbrauen konnte man noch ein paar Spuren davon erkennen, und die Wangen mit den feinen Fältchen waren mit Sommersprossen übersät. Der Mann hatte schütteres Haar, trug eine Brille und hatte ein auf anonyme Art freundliches Gesicht. Er stellte sich als Doug Robinson vor. Seine Frau hieß Linda.
»Ardeth.« Sie benutzte meistens ihren echten Namen, weil ihr ein Pseudonym unnötig erschien … Und weil es immer schwierig gewesen war, sie nicht durcheinanderzubringen.
»Wo wollen Sie hin?«
»Toronto.«
»Wir können Sie in Sudbury absetzen, aber weiter nach Süden fahren wir nicht.«
»Sudbury wäre prima.« Nachdem das Ritual der Vorstellung und des Zielorts erledigt war, wandte Ardeth ihren Blick wieder der vorüberziehenden Wand aus Bäumen zu und hoffte, ihnen mit dieser Geste die Lust auf weitere Konversation zu nehmen.
»Leben Sie in Toronto?«
»Früher einmal.«
»Und wo leben Sie jetzt?«
»Ich habe kein richtiges Zuhause. Ich war eine ganze Weile unterwegs.«
»Haben Sie in Toronto Familie?«
»Ja«, antwortete sie und fand sich damit ab, dass sie wohl oder übel jetzt eine Legende erfinden musste, die sie sich merken konnte. »Meine Schwester lebt dort. Ich werde sie eine Weile besuchen.« Es war immer am ungefährlichsten, sich an die Wahrheit zu halten, wenigstens für den Anfang.
»Und ihre Eltern?«
»In Ottawa.« Dort hatten sie zumindest gelebt, vor dem Autounfall vor fünf Jahren. »Wie weit ist es nach Sudbury?«
»Noch etwa drei Stunden«, antwortete Doug, und Ardeth fing den schnellen Blick auf, mit dem er sie im Rückspiegel musterte. Zu ihrer Überraschung wirkte er eher besorgt als neugierig. »Wenn Sie wollen, können Sie dort hinten schlafen. Sie müssen schon eine ganze Weile unterwegs sein.«
»Ja, stimmt«, antwortete Ardeth und gähnte bedächtig und beschloss, die sich bietende Gelegenheit zu nutzen, wenigstens so zu tun, als schliefe sie, und wäre es nur, um weiterer Konversation aus dem Weg zu gehen. Sie drückte ihren Rucksack ans Fenster, lehnte den Kopf dagegen und schloss die Augen.
Nach etwa zwanzig Minuten sagte Doug mit leiser Stimme: »Hast du mir schon verziehen?«
»Wofür denn?« Lindas Flüstern war voll verletzter Würde.
»Wir hätten doch das arme Ding schließlich nicht die ganze Strecke bis Sudbury zu Fuß gehen lassen können. Da draußen ist es gefährlich.«
»Und Tramper mitzunehmen ist es wohl nicht?«
»Alles, was man tut …«
»Ich weiß, ich weiß.« Zum ersten Mal klang in Lindas Flüstern so etwas wie ein Anflug von Belustigung mit. »Ich sollte vermutlich dankbar dafür sein, dass sie nicht einen Meter fünfundachtzig groß und ehemalige Strafgefangene ist.«
»Aber am Ende hat sie sich doch als anständiger Mensch erwiesen.« Dann herrschte Stille, und das leise Rascheln von Stoff war zu hören. Ardeth öffnete vorsichtig die Augen und sah, wie die Hand der Frau zu ihrem
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