Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
war. Der, vor dem sie mit nackten Füßen geflohen war. Eine Versuchung, der sie widerstanden hat, flüsterte ihm eine Stimme spöttisch zu.
»Nein.«
»Wann kommt sie zurück?«
»Das weiß ich nicht. Sie ist fortgegangen.«
»Oh. Wissen Sie, wohin?«
»Nein.«
»Oh. Nun ja, ich habe da Sachen von ihr, ihre Kletterschuhe. « Er hob die Plastiktüte in die Höhe. »Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wo sie wohnt, sonst hätte ich die Sachen schon früher gebracht. Oh, entschuldigen Sie. Ich bin Mark Frye.« Er streckte ihm die Hand hin. Rossokow starrte sie einen Augenblick lang an und griff dann danach. Trotz seiner scheinbaren Ruhe war die Hand des jungen Mannes vom Schweiß feucht und kalt.
Wie leicht es doch wäre, dachte Rossokow distanziert. Ein wenig mentale Gewalt, vielleicht nur ein freundliches Lächeln und das Versprechen einer Information über Ardeth, und dieses Geschöpf, so groß und voll Leben, würde durch die Tür in die Wohnung kommen. Und dann würde seine Stärke unter meinen Händen schmelzen und in meine Venen fließen. Würde ich Ardeth auf seinen Lippen schmecken? Könnte ich sie irgendwie zurückbekommen, indem ich ihn nehme?
»Dimitri Rossokow.« Frye musterte ihn einen Augenblick lang neugierig, und Rossokow fragte sich, was er wohl im schwachen Licht des Apartments sehen mochte. Weder an der Einrichtung oder seiner eigenen Verkleidung war etwas besonders unheilverheißendes oder argwohnerweckendes – seine Jeans und sein dunkles Hemd waren genauso alltäglich wie die Kleidung des anderen Mannes. Hatte man diese Gedanken an seinem Gesicht ablesen können?
»So, sind Sie ihr Alter?« Die Frage schockierte ihn sowohl wegen ihres anmaßenden Mutes als auch wegen der seltsamen Formulierung. Die Erinnerung an den Slang, den er sich auf den Straßen von Toronto oder aus mitternächtlichen Filmen angeeignet hatte, kam zurück, wissend und ironisch zugleich. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Ja zu sagen, zu bestätigen, dass er Ardeths Liebhaber war … und ihr Blutvater. Dann erinnerte er sich daran, dass er Ersteres vielleicht gar nicht mehr von sich behaupten konnte.
»Alt bin ich jedenfalls«, sagte er schließlich. Das zumindest war eine ungefährliche Wahrheit.
»Das wusste ich nicht. Dass es Sie gibt«, sagte Frye verlegen.
»Hätte das etwas bedeutet?«
»Klar, sicher.« Zu seiner eigenen Überraschung neigte Rossokow dazu, ihm zu glauben.
»Also, falls Sie zurückkommt, werde ich ihr sagen, dass Sie hier waren.« Das schien ihm eine ungefährliche Zusage – eine einfache Methode, diesen jungen Mann mit seinen beunruhigenden Fragen, seinen beunruhigenden Entschuldigungen und seinem noch beunruhigenderen Leben von seiner Türschwelle zu bekommen.
»Danke.« Frye schob ihm die Einkaufstüte zu und ging dann die Treppe hinunter. Als er die Hälfte des Weges nach unten zurückgelegt hatte, drehte er sich um. »Ich hoffe, dass sie bald zurückkommt.«
Rossokow starrte nach unten auf das Gesicht, das ihm zugewandt war, und sah ein eigenartiges Mitgefühl in den Augen, die ihn beobachteten. Ich bin nicht der Einzige, der sie verloren hat, begriff er.
»Ich auch«, sagte er schließlich und wusste, dass es die Wahrheit war.
15
Die Frau hatte nicht vorgehabt, sie mitzunehmen. Das konnte Ardeth aus ihren vorsichtigen Blicken im Rückspiegel und an ihrer unnatürlich steifen Schulterhaltung erkennen.
Sie war stundenlang auf dem Seitenstreifen des Highways dahingegangen. Die Prärie lag ein gutes Stück hinter ihr, und die Straße wurde jetzt von Fichten gesäumt. Den letzten Tag hatte sie im Schutz ihres würzigen Schattens und bewacht von mit spitzen Nadeln bewehrten Ästen geschlafen. Selbst jetzt hatte sie noch das Gefühl, dass der Geruch von Harz und Nadeln an ihr klebte. Wenigstens verbirgt das irgendwelche anderen Gerüche, dachte Ardeth amüsiert. Vampire schwitzten offenbar nicht sehr, aber ihr letztes Bad lag zwei Tage zurück, und ihre Kleidung war noch länger nicht gewaschen worden. Sie kam sich ungepflegt und schmutzig vor.
Seit dem Zwischenfall mit Gord hatte sie versucht, etwas wählerischer zu sein, was ihre Mitfahrgelegenheiten anging. Wenn der Fahrer keine Frau wie Kate Butler war, kein alter Mann oder kein Familienvater, schickte sie sie meistens mit einem höflichen »Nein, vielen Dank« weiter, und dazu noch einem festen mentalen Befehl, sich von ihr fernzuhalten. Nicht, dass sie Angst gehabt hätte, erinnerte sie sich,
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