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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Krähenfüßen in den Augenwinkeln, wenn er lächelte. Selbst die Musiker scheinen den herannahenden Winter zur Kenntnis genommen zu haben, dachte sie, als sie die bunten fingerlosen Wollhandschuhe an seinen Händen sah.
    Das Schaudern eines déjà vus durchlief sie plötzlich. Sie war schon einmal hier gewesen, am Rand einer kleinen Gruppe von Menschen, und hatte zwei Männern beim Spielen und Singen zugesehen. Einer jener Männer war jetzt tot, getötet, als die Trägheit, die sie in ihm nach dem Trinken seines Blutes hinterlassen hatte, ihn vor ein zu schnell fahrendes Taxi geschleudert hatte. Der andere Mann war jetzt der Liebhaber ihrer Schwester.
    Ardeth wandte sich fröstelnd ab und setzte ihren Weg fort. Denk nicht daran, forderte sie sich auf. Denk nicht daran, dass Mickey dich nicht mag, dass er dir Ricks Tod nie richtig verziehen hat. Er hat sein Leben riskiert, um Sara zu retten, nicht dich.
    Die Straßen waren zu angefüllt mit Erinnerungen: die Ecke, wo sie ihrem ersten Opfer begegnet war, als es dort bettelte, die Stelle, wo Mickey und Rick gespielt hatten. Sie verdrängte die Bilder. Auf eine ganz bestimmte Weise war sie hier glücklich gewesen. Es musste Orte geben, die keine schlechten Erinnerungen enthielten. Orte, wo sie an ihrer Wiedergeburt Freude gehabt hatte.
    Hinter ihr war Gelächter zu hören, dann war sie plötzlich von einer schwarzen Woge eingehüllt. Eine Gruppe junger Männer und Frauen strömte an ihr vorbei, und ihre dunklen Kleider, die weißen Gesichter und ihr gefärbtes Haar verrieten ihr Ziel.
    Sie könnte auch dorthin gehen, wurde ihr klar. Der Ort, den sie anstrebten, enthielt keine schmerzhaften Erinnerungen, nur die Aussicht auf Zuflucht und Befriedigung in seiner überfüllten Dunkelheit.
    Sie folgte ihnen die Nebenstraße hinunter und über die Treppe in den Keller, in dem der Club lag. Als die Tür aufging, schlug ihr dröhnende Musik entgegen und zog sie in eine Düsternis, die an ein Grab erinnerte. Im Club hing ein roter, rauchiger Dunst, erhellt von roten Lichtern und Kandelabern. Wohin sie blickte, waren bleiche Gesichter, rote Münder, schwarze Köpfe. Es war, als wäre sie von lauter Spiegeln umgeben.
    Im Sommer ihrer Wiedergeburt war sie einige Male hierhergekommen. Dieser Club war ein perfektes Versteck gewesen, und zugleich ein perfektes Jagdrevier.
    Wo konnte man sich besser verstecken, als in einem Club voll Menschen, die noch exotischer als sie aussahen? Wo konnte sie besser jagen, als inmitten einer Menschenmenge, die Vampiren begegnen wollte … oder sich selbst danach sehnte, ein Vampir zu sein.
    Ardeth ließ sich von der Musik auf die Tanzfläche ziehen. Ihre gewundenen Rhythmen lockerten ihre Wirbelsäule und übertönten mit dem Dröhnen der Gitarren alle Erinnerungen in ihr. Sie schloss die Augen und ließ die reale Welt hinter dem dunklen, rauchigen Raum verschwinden.
    Als sie die Augen wieder aufschlug, tanzte ein junger Mann neben ihr. Er hatte eine stachelige Krone aus gebleichtem Haar und Haut, die fast ebenso weiß war. In seinen Ohren, seiner Nase, seinen Lippen glitzerten Piercings. Als er sie ansah, bemerkte sie, dass seine Augen wie die ihren waren: von einem weichen Braun, das irgendwie nicht zu dem schrillen Bild passen wollte.
    Sie lächelte ein wenig, und seine Lippen schickten ein Echo ihres Lächelns zurück. Zwei wirre, widersprüchliche Gedanken huschten durch ihr Bewusstsein. Was mag er sich sonst noch gepierct haben? Ob er wohl so jung ist, wie er aussieht?
    Es wäre so einfach. Einfacher noch als der Junge in dem Wohnheim. Sie brauchte nur eine leise Andeutung durchblitzen zu lassen von dem, was sie war, und er würde mit ihr in den Schutz irgendeiner Seitengasse gehen. Er würde sie mit offenen Armen aufnehmen, und wenn sie zuließ, dass er sich an das Erlebnis erinnerte, würde er vielleicht sogar wiederkommen und sie suchen.
    Dann wäre es noch leichter, es wieder zu tun, und wieder. Sie sah sich um, betrachtete die dunkle Masse von Menschen und ihre Spiegelbilder an den Wänden. Vielleicht könnte das hier wieder ihr Leben sein. Vielleicht würde sie hier einen Ort finden, an dem sie heimisch werden konnte.
    Der Rhythmus der Musik verlangsamte sich ein wenig, ging schließlich in einen sinnlichen, trägen Rhythmus über. Der Junge neben ihr lächelte und rückte auf ein antwortendes Flackern in ihren Augen näher. Er sah so aus, als hätte er sich gerne mit ihr unterhalten, aber die Musik war dafür immer noch zu laut. Ardeth

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