Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
gelastet hatte.
20
Oktober, 1902
Natürlich hat es sich nicht genauso zugetragen.
Die Dame war nicht ganz so übernatürlich, wie es die Geschichte vielleicht glauben ließ. Und der junge Mann war ganz sicherlich anmaßender.
Aber wir aus der Familie Fujiwara lieben Worte fast ebenso sehr, wie wir die Macht lieben – und wir haben diesem Land ebenso große Dichter wie listenreiche Regenten geschenkt.
Als ich dieses Tagebuch in meiner eigenen Sprache schrieb, schien mir, als müsse ich versuchen, die wahren Ereignisse in Kunst und die Wirklichkeit in Dichtung zu verwandeln. Dichtung war sicherer für mich.
Jetzt, da ich beschlossen habe, es zu übersetzen, als Übung der englischen Sprache, die zu lernen ich mich abgemüht habe, habe ich auch beschlossen, weiterhin bei der Dichtung zu bleiben, aber auch einige Wahrheiten hinzuzufügen.
Das Tagebuch war gefährlich, als ich es begann, und es ist jetzt noch gefährlicher. Dennoch ist es für mich wichtig, es fortzuführen, es zu übersetzen. Das mag reine Eitelkeit sein, wenn ich auch vorziehe, das nicht zu glauben. Im Lauf der Jahrhunderte habe ich es aus einer Vielzahl von Gründen geschrieben. Es hält eine Vergangenheit fest, von der ich Angst hatte, ich könnte sie vergessen. Es hat mir die Möglichkeit gegeben, den Zustand, den ich erreicht habe, einigermaßen zu begreifen. Deshalb werde ich fortfahren, es zu verfassen, trotz der neuen Risiken, die vielleicht erwachsen sind.
Ich habe Mr. Stokers Buch gelesen. Obwohl ich es mir in seiner Muttersprache entschlüsselt habe und nicht der meinen, ist eines klar: Der Westen hat für das, was ich bin, Worte, auch wenn der Osten sie nicht hat.
Natürlich bin ich der junge Mann, dessen vom Missgeschick begleitete Reise in der ersten Geschichte dieses Tagebuchs aufgezeichnet ist. Mein Name ist Fujiwara no Sadamori – ich kann ihn noch nicht rückwärts denken, wie der Westen das fordert. Ich bin im Jahre 1015 nach Christi Geburt geboren, nach der westlichen Zeitrechnung. In dreizehn Jahren werde ich neunhundert Jahre alt sein.
Es hat mich einige Zeit gekostet, das Wesen meines Fluchs zu erkennen, da mir ja keine passende Mythologie zur Verfügung stand, die mich hätte leiten können. Ich habe all die Geschichten von Geistern, Dämonen und Form wandelnden Geschöpfen durchgesucht, an die ich mich erinnern konnte, aber ich konnte nichts darunter finden, das meinen Zustand beschreibt.
Während dieser ersten Zeit meiner Verzweiflung wanderte ich ziellos durch die Wälder. Ich kam fast um, als ich auf einer Wiese einschlief und erwachte, um festzustellen, wie die Sonne mein Fleisch verbrannte, als habe sie vor, es von meinen Knochen zu sengen. Hunger und Durst quälten mich, und ich war außerstande, Wasser oder die Nahrung zu verdauen, die ich finden konnte. Erst als es mir gelang, einen Hasen zu töten und in seine Kehle zu beißen, um sein Blut zu trinken, entdeckte ich, was ich jetzt zum Überleben brauchte.
In der vierten Nacht nach meiner Begegnung mit der Dame des Herbstmondes stieß ich im Wald auf einen Bauern. Ich dachte, ich wollte ihn nur anrufen, seine Hilfe suchen, aber als er mich sah, hatte er Angst. Die Jagd war kurz, denn ich stellte fest, dass ich trotz meines Hungers über neue Kräfte verfügte und viel schneller laufen konnte als vorher. Als ich ihn fing, war es, als käme eine Art von Wahnsinn über mich. Als er wieder verflog, war der Jäger tot, und meine Kehle brannte von seinem Blut.
Ich blieb noch drei Nächte im Wald, hin- und hergerissen zwischen Schrecken über das, was ich geworden war, und Faszination. Zuletzt wurde mir klar, dass der Fluch – die finstere Wandlung, welche die Dame an mir vollzogen hatte – mich nicht in ein geistloses Monstrum verwandelt hatte. Ich konnte nicht in den Wäldern und auf den Hügeln herumkreuchen und damit zufrieden sein.
Zuletzt, nachdem ich lange mit mir selbst ob meines Fluches gehadert hatte, begab ich mich an meinen neuen Posten und sagte dort nur, dass Wegelagerer mich überfallen hätten und ich nur mit Mühe lebend entkommen und erschöpft und verletzt einige Tage durch die Wälder geirrt sei.
Ich hatte seltsame Angewohnheiten, aber niemand in der Provinz kannte mich, und die Einheimischen waren bereit, einem Aristokraten vom Hofe jegliche Exzentrizität abzukaufen. Die Barone und ihre Krieger hielten mich für kraftlos, weil ich so sorgsam darauf bedacht war, die Sonne zu meiden. Die Konkubinen, die man mir anbot, hielten mich
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