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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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sagte, dass man Sara entführt hatte und dass der Preis für sie war, dass sie sich stellte.
    Aber diesmal war es Sara selbst, mit zerfetzten Jeans und T-Shirt bekleidet, das Haar wie ein kupferner Heiligenschein um ihr Gesicht. »Was hast du denn in diesem Winkel der Erde verloren? Ich dachte, du wolltest zu der alten Ardeth zurückkehren?«
    »Ich seh’ mich bloß um. Vielleicht kehre ich zu der Nichtso-alten-Ardeth zurück.« Saras Stimme hatte unsicher geklungen, und das hatte in der ihren eine gewisse Schärfe ausgelöst. Jetzt setzte ein unbehagliches Schweigen ein.
    »Kommst du rein und hörst ein wenig zu?«, fragte Sara schließlich. »Wir spielen dein Lied, ›Gone Missing‹.«
    »Das singt ihr immer noch?«, fragte Ardeth und erinnerte sich daran, wie sie Sara das letzte Mal hatte spielen sehen. Sie hatte unter den Zuhörern gestanden und dem Klagelied für eine verlorene Schwester gelauscht. Sie war hin- und hergerissen gewesen zwischen der Wut darüber, dass ihre Schwester irgendwie Anspruch auf ihr Verschwinden erhob, und der Sorge über die Erkenntnis, dass Sara sie vermisste und um sie trauerte.
    »Aber natürlich. Das wird auch mit auf der Platte sein, wenn wir sie aufnehmen. Hat es dir nicht gefallen?«
    »Das Lied ist gut. Das habe sogar ich gemerkt. Aber ich bin ja nicht mehr weg – nicht mehr ›gone missing‹.«
    »Doch, das bist du schon, Ardy«, sagte Sara leise. »Wir beide wissen doch, dass meine große Schwester nie zurückkommen wird.«
    »Sara…« Sie wollte weiterreden, wollte es hinausschreien. Ich bin hier, kannst du mich nicht sehen? Mich nicht spüren? Aber die Worte wollten sich nicht formen.
    »Du kannst es immer noch schaffen.«
    »Wovon redest du?«
    »Du schaffst es immer noch zum Flughafen«, wiederholte ihre Schwester. »Akiko hat gesagt, sie würden erst nach Mitternacht starten. Ich habe das überprüft. Jetzt ist es erst zehn.«
    »Warum sollte ich denn dorthin zurückwollen?«
    »Warum willst du bleiben?«, konterte Sara. »Du fühlst dich hier elend.«
    »Das stimmt nicht. Es dauert nur alles etwas länger, als ich dachte.«
    »Es dauert länger, weil es nicht funktionieren wird.«
    »Sara …« Das Echo ihrer eigenen Gedanken in den Worten ihrer Schwester ließ ihre Stimme schroff, beinahe schneidend klingen. Sie wandte sich ab und starrte in die dunklen Tiefen der Gasse.
    »Wieso bist du nicht wieder an die Uni zurückgegangen?«
    »Ich hab’ mich dort umgesehen. Ich kann nicht einfach…«
    »Doch, du könntest. Wenn du es willst, wenn du es wirklich willst, dann kannst du es auch. Aber sei doch mal ehrlich, Ardeth. Du interessierst dich doch nicht für die öffentlichen Verkehrsbetriebe um 1890, oder wie auch immer diese dämliche Doktorarbeit heißen sollte, stimmt’s?«
    »Die Frage ist doch nicht, ob mich das interessiert oder nicht.«
    »Doch. Interessiert es dich jetzt oder nicht?«
    »Nein«, gab Ardeth nach kurzem Zögern zu.
    »Kannst du dir vorstellen, die Arbeit fertigzuschreiben? Einen Job an der Uni anzunehmen? An der Abendschule Unterricht zu geben?«, fragte Sara.
    Sie machte den Mund auf, um zu antworten, ihrer Schwester von den Plänen zu erzählen, die sie gemacht hatte, der Zukunft, die sie sich ausgemalt hatte. Aber alles, was in ihrem Bewusstsein nach oben kam, war ein Fernseher, auf dem stumm Teenagerfantasien abliefen, während sie über einem warmen Männerkörper kauerte. Sie schüttelte langsam den Kopf.
    »Oder dort draußen auf der Queen Street rumzulungern und wieder Jagd auf Obdachlose oder Möchtegern-Vampire zu machen?«
    Ardeth dachte an den Nachtclub, die spitz zugefeilten Zähne des jungen Mannes, und schüttelte wieder den Kopf.
    »Das ist nicht mehr dein Leben, Ardy. Es tut mir leid, aber das ist es nicht.«
    »Was dann?«
    »Das weiß ich nicht. Aber was auch immer, hier wirst du es nicht finden. Die wirkliche Welt, dein wirkliches Leben, das ist in Banff, bei ihm.«
    »Ich kann nicht zurück, Sara.« Sie zwang sich, die Worte auszusprechen, trotz des plötzlichen Schmerzes in ihrer Kehle.
    »Nein«, sagte Sara mit weicher Stimme und lehnte sich neben sie an die Wand. »Nein, du kannst nicht zurück.«
    Das habe ich nicht gemeint, wollte Ardeth sagen, wollte es schreien, aber so dicht neben Sara ging das nicht, nicht solange ihre Schwester den Arm um sie gelegt hatte. Sie schloss die Augen und dachte daran, wie es sein würde, in die winzige Wohnung zurückzukehren. Wie Rossokow von seinem Stuhl und seinem Buch aufblicken

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